252 Die fröhliche Wissenschaft
gerade darin, die „Aufgabe" der Arterhaltung als eine dezidiert ,zwecklose'
darzustellen: Die Erhaltung der Art sei etwas, „was nothwendig und immer,
von sich aus und ohne allen Zweck geschieht" (371, 19 f.). Allenfalls könnte
man von Kant die - bei diesem aber auf die ästhetische Erfahrung des Schönen
gemünzte - Formel von der ,Zweckmäßigkeit ohne Zweck' entleihen, um zu
bezeichnen, was in FW 1 als ,zwecklose Aufgabe' der Gattungserhaltung er-
scheint. Sobald das (arterhaltende) Tun des Menschen als mit einem Zweck
verbunden vorgestellt wird, handelt es sich dem weiteren Gedankengang zufol-
ge immer schon um eine moralische und/oder religiöse Um- und Missdeutung
der titelgebenden „Lehrer vom Zwecke des Daseins", die im Verlauf
von FW 1 schließlich in poetologischer Metaphorik als Tragödien-Helden iden-
tifiziert werden.
369, 10 f. - weil dieser Instinct eben das Wesen unserer Art und Heerde ist.]
Ergänzt man, welcher „Instinct" gemeint ist - nämlich derjenige der Arterhal-
tung -, so erhält dieser Satzschluss eine gewisse tautologische Färbung: Das
Wesen unserer Art ist demnach der Instinkt zur Erhaltung unserer Art. Die ei-
gentümliche Zusammenstellung „Art und Heerde" signalisiert darüber hinaus,
zu welcher ,Gattung' die menschliche Spezies in den Augen des sprechenden
Ich gehört: zur Gattung der ,Herdentiere'. Implizit wird mit der Wesensbestim-
mung des Menschen durch einen „Instinct" seine Definition als Vernunftwesen
verabschiedet, wie sie seit der griechischen Antike in der philosophischen Tra-
dition vorherrscht (vgl. Thelen 2017, 342 f.). Nicht als vernünftiges Tier' (animal
rationale), sondern als „phantastische[s] Thier[]" (372, 19 f.) wird denn auch
der Mensch im Folgenden bestimmt. „Heerde" und „Heerden-Instinct" sind,
wie auch Brusotti 2014, 124 f. bemerkt, ein Leitthema in FW; vgl. FW 23, FW 50,
FW 116, FW 117, FW 149, FW 174, FW 195, FW 296, FW 328, FW 352, FW 354,
FW 368. Die Verbindung zwischen FW 1 und FW 354 („Vom,Genius der
Gattung'") macht in dieser Hinsicht Fornari 2009, 153 stark.
369, 11-17 Ob man schon schnell genug mit der üblichen Kurzsichtigkeit auf fünf
Schritt hin seine Nächsten säuberlich in nützliche und schädliche, gute und böse
Menschen auseinander zu thun pflegt, bei einer Abrechnung im Grossen, bei ei-
nem längeren Nachdenken über das Ganze wird man gegen dieses Säubern und
Auseinanderthun misstrauisch und lässt es endlich sein.] Die an dieser Stelle
vorgeführte „Kurzsichtigkeit", die den „Nächsten" (vgl. NK FW Vorspiel 30)
entweder als nützlich/gut oder als schädlich/böse einschätzt, lässt sich bei
dem englischen Utilitaristen Herbert Spencer beobachten, dessen 1879 in deut-
scher Übersetzung erschienene Thatsachen der Ethik N. erworben und ausweis-
lich zahlreicher Lesespuren intensiv und sehr kritisch rezipiert hatte. Spencer
sieht in der ethischen Grundunterscheidung Gut/Nützlich vs. Böse/Schädlich
gerade darin, die „Aufgabe" der Arterhaltung als eine dezidiert ,zwecklose'
darzustellen: Die Erhaltung der Art sei etwas, „was nothwendig und immer,
von sich aus und ohne allen Zweck geschieht" (371, 19 f.). Allenfalls könnte
man von Kant die - bei diesem aber auf die ästhetische Erfahrung des Schönen
gemünzte - Formel von der ,Zweckmäßigkeit ohne Zweck' entleihen, um zu
bezeichnen, was in FW 1 als ,zwecklose Aufgabe' der Gattungserhaltung er-
scheint. Sobald das (arterhaltende) Tun des Menschen als mit einem Zweck
verbunden vorgestellt wird, handelt es sich dem weiteren Gedankengang zufol-
ge immer schon um eine moralische und/oder religiöse Um- und Missdeutung
der titelgebenden „Lehrer vom Zwecke des Daseins", die im Verlauf
von FW 1 schließlich in poetologischer Metaphorik als Tragödien-Helden iden-
tifiziert werden.
369, 10 f. - weil dieser Instinct eben das Wesen unserer Art und Heerde ist.]
Ergänzt man, welcher „Instinct" gemeint ist - nämlich derjenige der Arterhal-
tung -, so erhält dieser Satzschluss eine gewisse tautologische Färbung: Das
Wesen unserer Art ist demnach der Instinkt zur Erhaltung unserer Art. Die ei-
gentümliche Zusammenstellung „Art und Heerde" signalisiert darüber hinaus,
zu welcher ,Gattung' die menschliche Spezies in den Augen des sprechenden
Ich gehört: zur Gattung der ,Herdentiere'. Implizit wird mit der Wesensbestim-
mung des Menschen durch einen „Instinct" seine Definition als Vernunftwesen
verabschiedet, wie sie seit der griechischen Antike in der philosophischen Tra-
dition vorherrscht (vgl. Thelen 2017, 342 f.). Nicht als vernünftiges Tier' (animal
rationale), sondern als „phantastische[s] Thier[]" (372, 19 f.) wird denn auch
der Mensch im Folgenden bestimmt. „Heerde" und „Heerden-Instinct" sind,
wie auch Brusotti 2014, 124 f. bemerkt, ein Leitthema in FW; vgl. FW 23, FW 50,
FW 116, FW 117, FW 149, FW 174, FW 195, FW 296, FW 328, FW 352, FW 354,
FW 368. Die Verbindung zwischen FW 1 und FW 354 („Vom,Genius der
Gattung'") macht in dieser Hinsicht Fornari 2009, 153 stark.
369, 11-17 Ob man schon schnell genug mit der üblichen Kurzsichtigkeit auf fünf
Schritt hin seine Nächsten säuberlich in nützliche und schädliche, gute und böse
Menschen auseinander zu thun pflegt, bei einer Abrechnung im Grossen, bei ei-
nem längeren Nachdenken über das Ganze wird man gegen dieses Säubern und
Auseinanderthun misstrauisch und lässt es endlich sein.] Die an dieser Stelle
vorgeführte „Kurzsichtigkeit", die den „Nächsten" (vgl. NK FW Vorspiel 30)
entweder als nützlich/gut oder als schädlich/böse einschätzt, lässt sich bei
dem englischen Utilitaristen Herbert Spencer beobachten, dessen 1879 in deut-
scher Übersetzung erschienene Thatsachen der Ethik N. erworben und ausweis-
lich zahlreicher Lesespuren intensiv und sehr kritisch rezipiert hatte. Spencer
sieht in der ethischen Grundunterscheidung Gut/Nützlich vs. Böse/Schädlich