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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0277
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254 Die fröhliche Wissenschaft

sprechende Ich eingangs genau jene Prämisse an. Allerdings argumentiert es
nicht, wie Schneider, auf der Ebene der Selektionsvor- oder -nachteile eines
jeweiligen Individuums und seiner Nachkommen, sondern auf der übergeord-
neten Ebene des Art-Ganzen. Bei Schneider ist zu lesen: „Jede Unvollkommen-
heit des Charakters, auch wenn sie keine ausgeprägt schlechten Handlun-
gen zur Folge hat, ist ein Hinderniss im Kampfe ums Dasein und trägt unter
Umständen zum Untergange der Familien bei. Leichtsinn, Verschwendung,
Tollkühnheit, Jähzorn, Feigheit und wie die unzweckmässigen Charaktereigen-
thümlichkeiten alle heissen mögen, sie alle hindern das Fortkommen des Ein-
zelnen oder erschweren eine passende Verheirathung oder übertragen sich auf
die Kinder und bilden den Keim zu Lastern der Nachkommen und zum Unter-
gange." (Schneider 1882, 98) Während demzufolge ohnehin im Laufe des Evo-
lutionsprozesses die guten, nützlichen Eigenschaften selektiert werden und am
Ende allein übrigbleiben, nimmt das in FW 1 sprechende Ich an, das die „Oeko-
nomie der Arterhaltung" - aus der Perspektive der Individuen - deutlich weni-
ger zielgerichtet und ,zweckmäßig' ist. Bestritten wird im zu kommentierenden
Passus nicht etwa, dass es für ein Individuum oder seine Nachkommen unvor-
teilhaft bzw. ,schädlich' sein mag, ,böse‘ Handlungen zu begehen, sondern be-
zweifelt wird lediglich, dass dies auch der Erhaltung der Art abträglich ist.
Die von Schneider als unzweckmäßige Charakterzüge von Individuen ge-
brandmarkten Eigenschaften „Leichtsinn, Verschwendung, Tollkühnheit" wer-
den in FW 1 gewissermaßen der Art im Ganzen beigelegt, deren „Oekonomie"
dem Wortsinn einer „Haushaltung" unter Gesichtspunkten der „Wirtschaftlich-
keit, Sparsamkeit" (Meyer 1874-1884, 12, 208) gerade nicht entspricht. Die Ge-
genhypothese lautet, dass die schädlichen/bösen Individuen, die sich viel-
leicht auch selbst schaden und zugrunde gehen (vgl. 370, 8), möglicherweise
z. B. den Selbstverteidigungstrieb anderer Menschen aktivieren und damit wie-
derum verhindern, das die „Menschheit" insgesamt ,erschlafft' und zugrunde
geht. Bemerkenswert ist dabei allerdings, wie sich der Redegestus von einem
gedankenexperimentellen „vielleicht" und einem hypothetischen Konjunktiv
(„wäre") im Verlauf des zu kommentierenden Passus über den plötzlichen Ge-
brauch des Indikativs („es gehört") schließlich hin zu einem apodiktischen -
durch Sperrdruck noch eigens ,untermauerten' - „bewiesener Maassen"
verschiebt. ,Bewiesen' ist ja eigentlich nur, dass die menschliche Art noch exis-
tiert, nicht aber, wie damit doch suggestiv vermittelt werden soll, dass die
„Oekonomie der Arterhaltung" tatsächlich so „thöricht[]" und „verschwende-
rischl ]" ist wie angenommen. Eventuell handelt es sich bei diesem ,Beweis'
um eine parodierende Allusion auf folgende Stelle aus Spencers Thatsachen
der Ethik: „Es wurde der Beweis geliefert, dass [...] der Zweck der Arterhaltung
erreicht wird" (Spencer 1879, 263, N.s Unterstreichung); vgl. NK 370, 20. Im
Anschluss an die Beweis-Behauptung wechselt das Sprecher-Ich sofort wieder
 
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