526 Die fröhliche Wissenschaft
heit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar
als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe"
(KSA 1, 883, 25-32). Zu N.s Anlehnung hierbei an Gustav Gerbers Werk Die
Sprache als Kunst (1871-1874) vgl. NK 1/3, S. 54.
422, 1-3 Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, -
eure gesammte Menschheit und Thierheit!] Wiederholt wird hier die schon vor-
her entfaltete These, der zufolge die menschlichen „Schätzungen der Dinge"
als eine Erbschaft „früherer Jahrhunderte" anzusehen sind (421, 14-16). Dass
auch mit der „Herkunft, Vergangenheit, Vorschule" nicht nur die jeweilige In-
dividualgeschichte, sondern die gesamte Gattungs- und Stammesgeschichte
gemeint ist, geht aus dem Hinweis auf die „Menschheit und Thierheit" hervor.
Zu der damit verbundenen Auffassung des Menschen als Tier, die sich bei N.
wiederholt findet, vgl. NK 372, 14-25. Vgl. auch die oben bereits zitierte Vorstu-
fe' zu FW 57, in der die Frage aufgeworfen wird: „Und sind wir nicht alle auch
im nüchternsten Zustande noch höchst leidenschaftliche Thiere im Vergleich
mit den Fischen?" (N V 5, 5) Zur Vorstellung einer phylogenetischen Vorge-
schichte der menschlichen Erkenntnis und Empfindung, die N. bei Emerson
vorgefunden hat, vgl. ähnlich schon FW 54 (416, 29-417, 3). Auf diese Querver-
bindung konzentriert sich Ure 2019, 81-83.
422, 3-7 Es giebt für uns keine „Wirklichkeit" - und auch für euch nicht, ihr
Nüchternen -, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht
ist unser guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als
euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt unfähig zu sein.) Folgende ,Vorstufe'
des Schlusses bedient sich einer (poetologischen) Schöpfungsmetapher, um
einen Unterschied zwischen ,Welt-Dichtern' und Nüchternen zu markieren: „Es
giebt für uns keine Wirklichkeit - und für euch auch nicht - nur dies fragt
sich, ob einer an diesem Gedicht r,Welt" fortdichten muß oder will oder ob
er es nicht kann und folglich auch nicht muß - wie ihr! Ihr Nüchternen! Ihr
Wiederkäuer!" (Μ III 5, 36 f.) Verglichen damit erscheint die Druckfassung kon-
zilianter gegenüber den Nüchternen. Das sprechende Wir, das sich implizit ja
von Anfang an von den apostrophierten Realisten absetzte, indem es sie über
ihren Selbstbetrug belehrte, betont nunmehr seine eigene Nähe zu ihnen und
wertet damit sie sowie sich selbst auf. Die Gemeinsamkeit zwischen den Nüch-
ternen und den ,Trunkenen', zu denen sich die Sprechinstanz zählt, besteht
demnach nicht nur in der projektiven Überformung von ,Wirklichkeit' auf bei-
den Seiten, sondern zumal in der Achtbarkeit, die zumindest vermutungsweise
(„vielleicht") den Haltungen der Nüchternen und Trunkenen gleichermaßen
zukommt. Während der jenen zugeschriebene „Glaube, der Trunkenheit über-
haupt unfähig zu sein", bereits aus dem Vorangehenden bekannt ist, kommt
heit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar
als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe"
(KSA 1, 883, 25-32). Zu N.s Anlehnung hierbei an Gustav Gerbers Werk Die
Sprache als Kunst (1871-1874) vgl. NK 1/3, S. 54.
422, 1-3 Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, -
eure gesammte Menschheit und Thierheit!] Wiederholt wird hier die schon vor-
her entfaltete These, der zufolge die menschlichen „Schätzungen der Dinge"
als eine Erbschaft „früherer Jahrhunderte" anzusehen sind (421, 14-16). Dass
auch mit der „Herkunft, Vergangenheit, Vorschule" nicht nur die jeweilige In-
dividualgeschichte, sondern die gesamte Gattungs- und Stammesgeschichte
gemeint ist, geht aus dem Hinweis auf die „Menschheit und Thierheit" hervor.
Zu der damit verbundenen Auffassung des Menschen als Tier, die sich bei N.
wiederholt findet, vgl. NK 372, 14-25. Vgl. auch die oben bereits zitierte Vorstu-
fe' zu FW 57, in der die Frage aufgeworfen wird: „Und sind wir nicht alle auch
im nüchternsten Zustande noch höchst leidenschaftliche Thiere im Vergleich
mit den Fischen?" (N V 5, 5) Zur Vorstellung einer phylogenetischen Vorge-
schichte der menschlichen Erkenntnis und Empfindung, die N. bei Emerson
vorgefunden hat, vgl. ähnlich schon FW 54 (416, 29-417, 3). Auf diese Querver-
bindung konzentriert sich Ure 2019, 81-83.
422, 3-7 Es giebt für uns keine „Wirklichkeit" - und auch für euch nicht, ihr
Nüchternen -, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht
ist unser guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als
euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt unfähig zu sein.) Folgende ,Vorstufe'
des Schlusses bedient sich einer (poetologischen) Schöpfungsmetapher, um
einen Unterschied zwischen ,Welt-Dichtern' und Nüchternen zu markieren: „Es
giebt für uns keine Wirklichkeit - und für euch auch nicht - nur dies fragt
sich, ob einer an diesem Gedicht r,Welt" fortdichten muß oder will oder ob
er es nicht kann und folglich auch nicht muß - wie ihr! Ihr Nüchternen! Ihr
Wiederkäuer!" (Μ III 5, 36 f.) Verglichen damit erscheint die Druckfassung kon-
zilianter gegenüber den Nüchternen. Das sprechende Wir, das sich implizit ja
von Anfang an von den apostrophierten Realisten absetzte, indem es sie über
ihren Selbstbetrug belehrte, betont nunmehr seine eigene Nähe zu ihnen und
wertet damit sie sowie sich selbst auf. Die Gemeinsamkeit zwischen den Nüch-
ternen und den ,Trunkenen', zu denen sich die Sprechinstanz zählt, besteht
demnach nicht nur in der projektiven Überformung von ,Wirklichkeit' auf bei-
den Seiten, sondern zumal in der Achtbarkeit, die zumindest vermutungsweise
(„vielleicht") den Haltungen der Nüchternen und Trunkenen gleichermaßen
zukommt. Während der jenen zugeschriebene „Glaube, der Trunkenheit über-
haupt unfähig zu sein", bereits aus dem Vorangehenden bekannt ist, kommt