Stellenkommentar FW 57-58, KSA 3, S. 422 527
der damit korrespondierende ,gute Wille zur Nüchternheit' aufseiten des spre-
chenden Wir am Schluss des Abschnitts zum ersten Mal und einigermaßen
überraschend zur Sprache. Was es mit diesem Willen des Sprechers, „über die
Trunkenheit hinauszukommen" - vgl. hiermit „unseren guten Willen zum
Wachsein und zum Tage" in FW 59 (423, 25 f.) -, auf sich hat, in welchen Hand-
lungen er sich konkret äußert und wie er mit der dargelegten Vorstellung von
der „unvertilgbare[n] Trunkenheit" (421, 17) im Wirklichkeitsbezug des Men-
schen vereinbar ist, dies alles bleibt offen.
Im Kontrast zu dem hier bekundeten ,Willen zur Nüchternheit' bekennt
sich das sprechende Wir in Abschnitt FW 299 aus dem Vierten Buch nach-
drücklich zu einer künstlerisch-schönfärberischen Idealisierung der „Dinge",
die „an sich" nie „schön" seien (538, 10-12).
58.
Nur als Schaffende!] Eine stark überarbeitete ,Vorstufe' findet sich in
Μ III 5, 22 f., die titellose ,Reinschrift' mit einigen Korrekturen und Varianten
in Μ III 6, 150. Nachdem im vorangehenden Abschnitt die Unmöglichkeit einer
menschlichen Erkenntnis der ,reinen' Wirklichkeit behauptet wurde, beschreibt
FW 58 den kreativen Zugang des Menschen zur dinglichen Welt in sprachphilo-
sophischer Hinsicht als einen historischen Prozess der Erfindung und Verknüp-
fung sprachlicher Zeichen, deren Arbitrarität im Laufe der Zeit jedoch zu-
nehmend aus dem Bewusstsein gerät, so dass Namen und Dinge schließlich
identisch zu sein scheinen. Die Titelformulierung, die gegen Ende des Textes
wieder aufgegriffen und auf eine ,kreative Zerstörung' bezogen wird, zielt da-
bei auf eine Umschaffung der ,objektiven Realität' durch neue Bezeichnungen
und damit verbundene Bewertungen ab. Deutungsansätze finden sich u. a. bei
Murphy 2001, 29, der FW 58 auf JGB 20 als „extended version of this argument"
bezieht, Bertino 2011a, 23, der eine Gemeinsamkeit zwischen FW 58 und Her-
ders Sprachtheorie feststellt, Piazzesi 2011, 141 u. 158, die den Text als „upshot
[...] of the internalization not only of perspectivism, but of the certainty of its
epistemological and existential primacy" liest, und Vivarelli 2015, 74, die wie
schon im vorangehenden Abschnitt „Emerson [...] im Hintergrund" sieht, wofür
sie auf das Emerson-Zitat über die destruktive Kraft eines großen Denkers aus
UB III SE 8, KSA 1, 426, 11-25 verweist.
422, 9-12 Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immer-
fort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, wie die
Dinge heissen, als was sie sind.] Im Gegensatz zu diesem persönlichen
Statement eines Ich, das auf die mühevolle Geschichte seiner sprach- bzw. er-
der damit korrespondierende ,gute Wille zur Nüchternheit' aufseiten des spre-
chenden Wir am Schluss des Abschnitts zum ersten Mal und einigermaßen
überraschend zur Sprache. Was es mit diesem Willen des Sprechers, „über die
Trunkenheit hinauszukommen" - vgl. hiermit „unseren guten Willen zum
Wachsein und zum Tage" in FW 59 (423, 25 f.) -, auf sich hat, in welchen Hand-
lungen er sich konkret äußert und wie er mit der dargelegten Vorstellung von
der „unvertilgbare[n] Trunkenheit" (421, 17) im Wirklichkeitsbezug des Men-
schen vereinbar ist, dies alles bleibt offen.
Im Kontrast zu dem hier bekundeten ,Willen zur Nüchternheit' bekennt
sich das sprechende Wir in Abschnitt FW 299 aus dem Vierten Buch nach-
drücklich zu einer künstlerisch-schönfärberischen Idealisierung der „Dinge",
die „an sich" nie „schön" seien (538, 10-12).
58.
Nur als Schaffende!] Eine stark überarbeitete ,Vorstufe' findet sich in
Μ III 5, 22 f., die titellose ,Reinschrift' mit einigen Korrekturen und Varianten
in Μ III 6, 150. Nachdem im vorangehenden Abschnitt die Unmöglichkeit einer
menschlichen Erkenntnis der ,reinen' Wirklichkeit behauptet wurde, beschreibt
FW 58 den kreativen Zugang des Menschen zur dinglichen Welt in sprachphilo-
sophischer Hinsicht als einen historischen Prozess der Erfindung und Verknüp-
fung sprachlicher Zeichen, deren Arbitrarität im Laufe der Zeit jedoch zu-
nehmend aus dem Bewusstsein gerät, so dass Namen und Dinge schließlich
identisch zu sein scheinen. Die Titelformulierung, die gegen Ende des Textes
wieder aufgegriffen und auf eine ,kreative Zerstörung' bezogen wird, zielt da-
bei auf eine Umschaffung der ,objektiven Realität' durch neue Bezeichnungen
und damit verbundene Bewertungen ab. Deutungsansätze finden sich u. a. bei
Murphy 2001, 29, der FW 58 auf JGB 20 als „extended version of this argument"
bezieht, Bertino 2011a, 23, der eine Gemeinsamkeit zwischen FW 58 und Her-
ders Sprachtheorie feststellt, Piazzesi 2011, 141 u. 158, die den Text als „upshot
[...] of the internalization not only of perspectivism, but of the certainty of its
epistemological and existential primacy" liest, und Vivarelli 2015, 74, die wie
schon im vorangehenden Abschnitt „Emerson [...] im Hintergrund" sieht, wofür
sie auf das Emerson-Zitat über die destruktive Kraft eines großen Denkers aus
UB III SE 8, KSA 1, 426, 11-25 verweist.
422, 9-12 Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immer-
fort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, wie die
Dinge heissen, als was sie sind.] Im Gegensatz zu diesem persönlichen
Statement eines Ich, das auf die mühevolle Geschichte seiner sprach- bzw. er-