Stellenkommentar FW 107, KSA 3, S. 464-465 741
dessen nur noch als Künstler den Schein anzubeten, geht es dem sprechenden
Wir in FW 107 keineswegs darum, auf solche Weise dem ,Willen zur Wahrheit'
radikal den Rücken zu kehren. Dieser ,Wille zur Wahrheit' taucht hier unter
der bereits in Μ sowie in früheren Abschnitten von FW vorkommenden For-
mel „Leidenschaft der Erkenntniss" auf (464, 31 f.), die vielmehr mit dem
künstlerischen „Cultus des Unwahren" (464, 11), dem ästhetischen „Willen
zum Scheine" (464, 19) vermittelt werden soll. Das Wir fordert eine solche
Vermittlung für sich in Form einer „Pendelbewegung", wie es Brusotti 1997b,
441 beschrieben hat, der von „notwendigen Erholungspausen" durch die
Kunst spricht, auf die dann aber immer wieder die durch die „Redlichkeit"
(464, 17) bestimmten Anstrengungsphasen jener „Leidenschaft der Erkennt-
niss" folgen: „Die Erkenntnis und diese notwendigen Erholungspausen sollen
einander ablösen - in einer Art Ebbe und Flut." (Brusotti 1997b, 441) In der
Tat ist an der hier zu kommentierenden Stelle nur davon die Rede, sich dem
ästhetischen Schein „zeitweilig" hinzugeben. Diese Vorstellung erinnert auch
an das zyklische Modell der sich gegenseitig ablösenden Deutungen des Le-
bens als Tragödie und Komödie in FW 1, wo explizit von einem „neue[n] Ge-
setz der Ebbe und Fluth" gesprochen wird (372, 32 f.). Vgl. aber Brusotti 1991,
426, der in FW 107 schon „jene Vorrangstellung" der Kunst gegenüber der
Erkenntnis vorbereitet sieht, „die Nietzsche in seiner späteren Philosophie
immer stärker betonen wird".
464, 31 f. Leidenschaft der Erkenntniss] Vgl. NK 375, 17 f.
464, 32-465, 1 wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer
Weisheit froh bleiben zu können!] Vgl. NK 464, 27 f. Der zu kommentierende
Passus lässt sich so lesen, dass hier eine Funktionshierarchie zwischen Wis-
senschaft und Kunst, „Weisheit" und „Thorheit" vorausgesetzt wird: Die mit
letzterer assoziierte Kunst soll lediglich der vorübergehenden Entlastung die-
nen, um die jeweils wieder anschließenden Anstrengungen der wissenschaftli-
chen Erkenntnisleidenschaft besser aushalten zu können; sie ist keineswegs
gleichrangig mit dieser, sondern steht zu ihr in einem dienenden Um-zu-Verhält-
nis. Dieses Ideal einer ,frohen Weisheit' variiert die Titelformel von der ,fröhli-
chen Wissenschaft'. Vgl. auch Brusotti 1997b, 453, der den Passus wie folgt inter-
pretiert: „Nur wenn redliche wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische
Kräfte zusammenspielen, kann der tragische Ernst der Redlichkeit zur fröhli-
chen Wissenschaft werden." Sie wäre demnach eine „Wissenschaft", die beides
einschließt: die schwer erträgliche, vom ,Willen zur Wahrheit' getriebene „Red-
lichkeit" der Erkenntnis und deren zeitweilige, erholsame „Gegenmacht" (464,
17), die den Schein wollende Kunst - aber diese nur um jener willen. Es handelt
sich also um ein nicht ganz paritätisches Neben- und Nacheinander von Philoso-
dessen nur noch als Künstler den Schein anzubeten, geht es dem sprechenden
Wir in FW 107 keineswegs darum, auf solche Weise dem ,Willen zur Wahrheit'
radikal den Rücken zu kehren. Dieser ,Wille zur Wahrheit' taucht hier unter
der bereits in Μ sowie in früheren Abschnitten von FW vorkommenden For-
mel „Leidenschaft der Erkenntniss" auf (464, 31 f.), die vielmehr mit dem
künstlerischen „Cultus des Unwahren" (464, 11), dem ästhetischen „Willen
zum Scheine" (464, 19) vermittelt werden soll. Das Wir fordert eine solche
Vermittlung für sich in Form einer „Pendelbewegung", wie es Brusotti 1997b,
441 beschrieben hat, der von „notwendigen Erholungspausen" durch die
Kunst spricht, auf die dann aber immer wieder die durch die „Redlichkeit"
(464, 17) bestimmten Anstrengungsphasen jener „Leidenschaft der Erkennt-
niss" folgen: „Die Erkenntnis und diese notwendigen Erholungspausen sollen
einander ablösen - in einer Art Ebbe und Flut." (Brusotti 1997b, 441) In der
Tat ist an der hier zu kommentierenden Stelle nur davon die Rede, sich dem
ästhetischen Schein „zeitweilig" hinzugeben. Diese Vorstellung erinnert auch
an das zyklische Modell der sich gegenseitig ablösenden Deutungen des Le-
bens als Tragödie und Komödie in FW 1, wo explizit von einem „neue[n] Ge-
setz der Ebbe und Fluth" gesprochen wird (372, 32 f.). Vgl. aber Brusotti 1991,
426, der in FW 107 schon „jene Vorrangstellung" der Kunst gegenüber der
Erkenntnis vorbereitet sieht, „die Nietzsche in seiner späteren Philosophie
immer stärker betonen wird".
464, 31 f. Leidenschaft der Erkenntniss] Vgl. NK 375, 17 f.
464, 32-465, 1 wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer
Weisheit froh bleiben zu können!] Vgl. NK 464, 27 f. Der zu kommentierende
Passus lässt sich so lesen, dass hier eine Funktionshierarchie zwischen Wis-
senschaft und Kunst, „Weisheit" und „Thorheit" vorausgesetzt wird: Die mit
letzterer assoziierte Kunst soll lediglich der vorübergehenden Entlastung die-
nen, um die jeweils wieder anschließenden Anstrengungen der wissenschaftli-
chen Erkenntnisleidenschaft besser aushalten zu können; sie ist keineswegs
gleichrangig mit dieser, sondern steht zu ihr in einem dienenden Um-zu-Verhält-
nis. Dieses Ideal einer ,frohen Weisheit' variiert die Titelformel von der ,fröhli-
chen Wissenschaft'. Vgl. auch Brusotti 1997b, 453, der den Passus wie folgt inter-
pretiert: „Nur wenn redliche wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische
Kräfte zusammenspielen, kann der tragische Ernst der Redlichkeit zur fröhli-
chen Wissenschaft werden." Sie wäre demnach eine „Wissenschaft", die beides
einschließt: die schwer erträgliche, vom ,Willen zur Wahrheit' getriebene „Red-
lichkeit" der Erkenntnis und deren zeitweilige, erholsame „Gegenmacht" (464,
17), die den Schein wollende Kunst - aber diese nur um jener willen. Es handelt
sich also um ein nicht ganz paritätisches Neben- und Nacheinander von Philoso-