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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#1068
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Stellenkommentar FW 268-270, KSA 3, S. 519 1045

269.
Woran glaubst du?] Eine ,Vorstufe' lautet: „Was willst du? - Das Gewicht
der Dinge neu bestimmen." (N V 9, 194) Es handelt sich hier wie in der Druck-
fassung, wo noch etwas umfassender und entschiedener gefordert wird, „dass
die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen" (519, 5 f.), um einen
Vorklang der berühmten N.-Formel von der ,Umwertung aller Werte' (siehe
hierzu Winteler 2014, 109 und Schacht 2015, 104). Vgl. auch schon das im Zwei-
ten Buch am Schluss von FW 58 in Aussicht gestellte Vorhaben, „neue Namen
und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen" (422, 25 f.), sowie die
selbstbezügliche Feststellung am Ende von FW 152, „die Dinge neu gefärbt" zu
haben und „immerfort an ihnen" weiterzumalen (495, 27 f.); zu dieser kotextu-
ellen Verbindung siehe Willers 1988, 141.

270.
Was sagt dein Gewissen?] In einer ,Vorstufe' lautet die Titelfrage noch:
„Wie lautet deine Moral?rsagt dir dein Gewissen?'" (N V 9, 192) Bei „Moral" ist
hier wohl nicht an die althergebrachte, christlich geprägte, sondern an eine
neue Moral zu denken, bei „Gewissen" dementsprechend nicht an das traditio-
nelle moralische Gewissen, das in vielen anderen Texten N.s attackiert wird,
sondern vielmehr an das intellektuelle Gewissen, das schon in FW 2 an dessen
Stelle rückt. Die Antwort auf diese ,Gewissensfrage' verändert N. noch in der
Vorstufe' von der ersten zur zweiten Person Singular (vgl. ebd.), wie es dann
auch in der Druckfassung heißt: „Du sollst der werden, der du bist" (519, 8 f.).
Bekanntlich gab N. der auf sein Leben und Werk zurückblickenden Schrift EH
den Untertitel „Wie man wird, was man ist" (vgl. hierzu auch ΝΚ KSA 6, 255, 2). Er
greift damit eine vielzitierte paradoxale Wendung aus Pindars zweiter Pythi-
scher Ode auf (V. 72): „γένοι' οίος έσσί μαθών" (in der Pindar-Übersetzung von
Mommsen, die N. besaß: „0 sei, was Du, wie Du vernähmest, bist!", Pindaros
1846, 73). Bereits in N.s Brief an Lou von Salome (vermutlich) vom 10. Juni
1882 weist er eigens auf die pindarische Herkunft dieser Aufforderung hin:
„Pindar sagt einmal ,werde der, der du bist!'" (KSB 6/KGB III 1, Nr. 239,
S. 203, Z. 32 f.)
Im Vierten Buch kommt FW 335 auf diesen pindarischen Imperativ zurück,
wobei dieser dort nicht nur ausdrücklich mit der Stimme des „intellectuellen
Gewissen[s]" (561, 12 f.) assoziiert, sondern zugleich hinsichtlich des Selbst-
seins, zu dem es zu werden gilt, inhaltlich konkretisiert wird: „Wir aber wol-
len Die werden, die wir sind, - die Neuen, die Einmaligen, die Unver-
 
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