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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 2. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73067#0554
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Stellenkommentar FW 383, KSA 3, S. 637-638 1595

und darum hat es noch Zeit bis zur ,Lesbarkeit' meiner Schriften -, zu dem
man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ,moderner Mensch' sein muss: das
Wiederkäuen ..." (KSA 5, 256, 2-9) Mit dieser ruminatorischen Lektürepra-
xis, die sich vielleicht auch an vorliegender Stelle hinter den „Tugenden des
rechten Lesens" verbirgt, wird den Lesenden ein Rat erteilt, der im Kontext von
N.s Schaffen mindestens doppeldeutig anmutet: Zum einen ist das sich vegan
ernährende, herdentierische ,Hornvieh' bei ihm sonst meist negativ - nämlich
mit Dummheit und Harmlosigkeit - konnotiert; zum anderen erweist sich N.
selbst keineswegs als langsamer, wiederkäuender, sondern im Gegenteil als
ein räuberischer Leser, der seine ,Beute' hastig verschlingt und verwertet. Vgl.
NK 635, 18-23. Bemerkenswerterweise wird der ernste Appell an die Leser zu
Beginn von FW 383 auch gar nicht ausgeführt, sondern durch das subversive
Lachen der Buchgeister schon im Keim erstickt.
637, 29-31 die Grillen nicht verscheucht, - dass es die Grillen vielmehr einlädt,
mit zu singen, mit zu tanzen] Wortspiel mit der Homonymie von „Grillen": im
entomologischen Sinn als „grabheuschrecken die gryllidae, eine familie der
geradflügler" (Grimm 1854-1971, 9, 316) und „seit dem 17. jh. mit zunehmender
häufigkeit" als metaphorische Bezeichnung „von den wunderlichen einfällen
grübelnder gelehrter, philosophen", insbesondere auch in Bezug auf „trübseli-
ge, sorghafte gedanken, [...] grundlose, einer wunderlichen einbildung oder
melancholischen gemüthsverfassung entspringende kümmernisse" (ebd., 322).
N.s Text ruft mit der Redensart ,Grillen verscheuchen' (vgl. ebd., 324: „die gril-
len vertreiben") diese Bedeutung auf, mit der dagegen erwünschten Einladung
an die Grillen, „mit zu singen, mit zu tanzen", aber auch die zuerst genannte
zoologische. Zugleich gibt dieses Wortspiel damit selbst ein Beispiel für eine
weitere, positiver besetzte Bedeutung von „Grillen" als „närrische, lustige ein-
fälle" (ebd., 319). Zu den „two senses of the world Grillen (,moping' and ,cri-
ckets')" vgl. schon Koelb 1990, 155. (Dass der in FW 383, 638, 3 f. anzitierte
Beethoven in den Augen Goethes ein närrischer Grillenfänger war, thematisiert
im Zweiten Buch FW 103; vgl. NK 459, 18-460, 12.)
637, 32 Dudelsack] Ein Dudelsack kommt bei N. nur noch in KGW IX 9, W II
6, 20, 18-20 (NL 1888, 15[118], KSA 13, 478, 6) und wortidentisch in GD Sprüche
und Pfeile 33, KSA 6, 64, 14 f. vor: „Der Ton eines Dudelsacks. - Ohne Musik
wäre das Leben ein Irrthum."
637, 32-638,1 Unkenrufe] Vgl. Krünitz 1773-1858, 198, 486: „der Ton, den die
Unken hören lassen, und den der Abergläubige als eine unglückliche Vorbe-
deutung betrachtet."
638, 1 Murmelthierpfiffe] Vgl. N.s Brief an Elisabeth Förster vom 26. Januar
1887, in dem er sich selbst als pfeifendes Murmeltier inszeniert: „Kurz, jenes
 
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