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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0112
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92 Jenseits von Gut und Böse

ereifert, Maß von allem sein zu wollen, kann freilich den Umstand nicht tilgen,
dass auch ein bewusst perspektivisches Denken aus einer menschlichen, wenn
auch historisch-kontingent menschlichen Optik heraus operiert. Zur Funktion
des homo-mensura-Satzes in N.s CEuvre vgl. auch Mann 2003, 417-424 u. Brob-
jer 2005b, 266-271, zu N. und Protagoras Mann/Lustila 2011.
4.
Eine Vorarbeit zu JGB 4 stellt NL 1885, KSA 11, 35[37], 526 f. (hier korrigiert nach
KGW IX 4, W I 3, 96) dar: „Die Falschheit eines Begriffs ist mir noch kein
Einwand gegen ihn. Darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdes-
ten: die Frage ist, wie weit er lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend ist.
Ich bin sogar grundsätzlich des Glaubens, daß die falschesten Annah-
men uns gerade die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Gelten-
lassen der logischen Fiktion, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der erfun-
denen Welt des Unbedingten, Sich-selber-Gleichen der Mensch nicht leben
kann, und daß ein Verneinen dieser Fiktion, ein praktisches Verzichtleisten auf
sie, so viel wie eine Verneinung des Lebens bedeuten würde. Die Unwahr-
heit als Lebensbedingung zugestehn: das heißt freilich auf eine
schreckliche Weise die gewohnten Werthgefühle von sich abthun — und hier,
wenn irgend wo, gilt es, sich an der »erkannten Wahrheit4 nicht zu »verbluten4.
Man muß sofort in dieser höchsten Gefahr die schöpferischen Grund-Instinkte
des Menschen heraufrufen, welche stärker sind als alle Werthgefühle: die, wel-
che die Mütter der Werthgefühle selber sind und im ewigen Gebären über das
ewige Untergehn ihrer Kinder ihre erhabene Tröstung genießen. Und zuletzt:
welche Gewalt war es denn, welche uns zwang, jenem »Glauben an die
Wahrheit4, abzuschwören, wenn es nicht das Leben selber war und alle seine
schöpferischen Grund-Instinkte? — so daß wir also es nicht nöthig haben, die-
se »Mütter4 heraufzubeschwören: — sie sind schon oben, ihre Augen blicken
uns an, wir vollführen eben, wozu deren Zauber uns überredet hat.44 Köselitz
hatte diese Aufzeichnung als erste Niederschrift von JGB 4 deklariert (vgl. Eich-
berg 2009, 130; zur Interpretation von KSA 11, 35[37] siehe auch Figl 1982, 202
u. Jaspers 1981, 225). N. diktierte Louise Röder-Wiederhold im Sommer 1885
einen Text, der weitgehend auf KSA 11, 35[37] basiert (Dns Mp XVI, BL 35r -
Röllin 2012, 210 f.). Die Druckfassung von JGB 4 ist erheblich kürzer als diese
beiden Versionen; vor allem verzichtet sie auf die ausgiebigen Reflexionen zur
Konsequenz der eingangs gewonnenen Einsicht für die Lebenspraxis der Er-
kennenden am Ende des Textes. Diese Einsicht bleibt sowohl im Nachlass als
auch in der Druckfassung identisch: Falsche Begriffe oder Urteile können dem
Leben eminent förderlich sein - gerade auch die Orientierung an einem „Unbe-
 
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