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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0150
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130 Jenseits von Gut und Böse

thetischen Urtheilen a priori entdeckt zu haben. Es geht uns hier nichts an,
wie sehr er sich hierin selber betrog: aber die deutsche Philosophie, so wie sie
im ganzen Europa seit hundert Jahren bewundert wird und gewirkt hat, hängt
an diesem Stolze und dem Wetteifer der Jüngeren womöglich etwas noch Stol-
zeres zu entdecken — und jedenfalls neue Vermögen! Es machte den eigentli-
chen Ruhm der deutschen Philosophie bisher aus, daß man durch sie an eine
Art »intuitiver und instinktiver Erfassung der Wahrheit4 glauben lernte; und
auch Schopenhauer, so sehr er Fichten, Hegeln und Schelling zürnte, war im
Grunde auf derselben Bahn, als er an einem alten bekannten Vermögen, dem
Willen ein neues Vermögen entdeckte — nämlich selber ,das Ding an sich4 zu
sein. Das hieß in der That kräftig zugreifen und seine Finger nicht schonen,
mitten hinein ins »Wesen4! Schlimm genug daß dieses Wesen sich dabei unan-
genehm erwies, und, infolge verbrannter Finger, durchaus der Pessimismus
und die Verneinung des Willens zum Leben nöthig erschien! Aber dieses
Schicksal Schopenhauers ist ein Zwischenfall, der für die gesammte Bedeutung
der deutschen Philosophie, für ihren höheren »Effekt4, ohne Einfluß blieb: in
der Hauptsache nämlich bedeutete sie in ganz Europa die frohlockende
Reaktion gegen den Rationalismus des Descartes und gegen die Skepsis der
Engländer, zu Gunsten des »Intuitiven4, »Instinktiven4 und alles »Guten, Wahren
und Schönen4. Man meinte, der Weg zur Erkenntniß sei nunmehr abge-
kürzt, man könne unmittelbar den »Dingen4 zu Leibe gehen, man hoffte »Ar-
beit zu sparen4: und alles Glück, welches edle Müßiggänger, Tugendhafte,
Träumerische, Mystiker, Künstler, Dreiviertels-Christen, politische Dunkelmän-
ner und metaphysische Begriffs-Spinnen zu empfinden fähig sind, wurde den
Deutschen zur Ehre angerechnet. Der gute Ruf der Deutschen war auf einmal
in Europa hergestellt: durch ihre Philosophen! — Ich hoffe, man weiß es doch
noch, daß die Deutschen in Europa einen schlechten Ruf hatten? Daß man
bei ihnen an servile und erbärmliche Eigenschaften, an die Unfähigkeit zum
»Charakter4, an die berühmte Bedienten-Seele glaubte? Mit Einem Male aber
lernte man sagen: ,die Deutschen sind tief, die Deutschen sind tugendhaft, —
man lese nur ihre Philosophen4! Im letzten Grunde war es die verhaltene und
lange aufgestaute Frömmigkeit der Deutschen, welche in ihrer Philosophie
endlich explodirte, unklar und ungewiß freilich, wie alles Deutsche, nämlich
bald in pantheistischen Dämpfen, wie bei Hegel und Schelling, als Gnosis, bald
mystisch und weltverneinend, wie bei Schopenhauer: in der Hauptsache aber
eine christliche Frömmigkeit, und nicht eine heidnische, — für welche Goethe
und vor ihm schon Spinoza so viel guten Willen gezeigt haben.44 (Vgl. die in
KGW VII 4/2, 461 f. mitgeteilte Vorstufe). Ein Entwurf zu dem Teil von JGB 11,
der sich mit den synthetischen Urteilen a priori, dem „Vermögen“ und Moliere
beschäftigt, findet sich in Dns Mp XVI, BL 29r u. 30r (Röllin 2012, 202 f.).
 
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