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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0181
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Stellenkommentar JGB 14, KSA 5, S. 28 161

mit der ai'aOqaic;, der „Sinneswahrnehmung“ nichts zu tun hat.) Aufschluss-
reich ist dabei die Fußnote des Übersetzers zu dieser Stelle, die den in 28, 24
verwendeten Ausdruck „Pöbel“ als Übersetzung von „oi noAAoi“, „die Vielen“,
anbietet: „Das eigentliche oder höchste Gut des Platon besteht nicht im /311/
Kitzel der Sinneslust, wie damals der Pöbel der Straße und in der Schule, die
Materialisten (Kyrenaiker), meinten und heute noch meinet“ (Platon 1856,
310 f.). Zur ablenkenden Kraft der Sinneseindrücke vgl. auch Platon: Timaios
43c-d.
Den Ausdruck „Sinnen-Pöbel“ benutzte N. auch in einem kulturkritischen
Notat, in dem er u. a. Lesefrüchte aus dem zweiten Band von Paul Alberts La
litterature frangaise au dix-neuvieme siede (1885) verwertete (vgl. NK KSA 6,
112, 32-113, 2). Hier wird gegen Victor Hugo als „Plebejer“ (NL 1885, KSA 11,
38 [6], 601) polemisiert und dies sodann zu einer Epochendiagnose generali-
siert: „Das nämlich ist die Grundthatsache des französischen romantisme, als
einer plebejischen Reaktion des Geschmacks —: er ist damit auf der entgegen-
gesetzten Bahn und will gerade das Umgekehrte von dem, was die Dichter ei-
ner vornehmen Kultur, wie zum Beispiel Corneille, von sich wollten. Denn die-
se hatten ihren Genuß und Ehrgeiz daran, ihre vielleicht noch stärker gearteten
Sinne mit dem Begriffe zu überwältigen und gegen die brutalen Ansprüche
von Farben, Tönen und Gestalten einer feinen hellen Geistigkeit zum Siege zu
verhelfen: womit sie, wie mich dünkt, auf der Spur der großen Griechen waren,
so wenig sie gerade davon gewußt haben mögen. Genau Das, was unserem
plump sinnlichen und naturalistischen Geschmack von Heute Mißbehagen an
den Griechen und den älteren Franzosen macht, — war die Absicht ihres
künstlerischen Wollens, auch ihr Triumph: denn sie bekämpften und besiegten
gerade den ,Sinnen-Pöbel‘, dem zu einer Kunst zu verhelfen der Ehrgeiz unse-
rer Dichter, Maler und Musiker ist.“ (KSA 11, 601, 31-602,15) Diese zeitdiagnos-
tische Suada ist mit anderem Personal strukturell analog konstruiert wie JGB
14, wo sich Sensualisten und Platoniker gegenüberstehen und wo ebenso be-
klagt wird, dass in der Gegenwart das Plebejische und die sinnliche Orientie-
rung überhand genommen hätten. Die Größe einer „vornehmen Kultur“ soll
eben - egal ob bei Platon oder bei Pierre Corneille - darin bestehen, sich, auch
angesichts starker sinnlicher Reize, quasi selbst überwunden zu haben. Das
kommt asketischen Idealen bedenklich nahe.
28, 26-29, 3 als der [Genuss] es ist, welchen uns die Physiker von Heute anbie-
ten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen
Arbeitern, mit ihrem Princip der „kleinstmöglichen Kraft“ und der grösstmögli-
chen Dummheit. „Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da
hat er auch nichts mehr zu suchen“ — das ist freilich ein anderer Imperativ als
der Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht von
 
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