Stellenkommentar JGB 20, KSA 5, S. 34 193
nicht zu durchbrechen vermögen. Leicht wird man dadurch zum Schluss ver-
führt, dass auch N.s eigene Begriffsbildung denselben systemischen Zwängen
gehorche. Diesen Schluss haben prominente philosophische N.-Interpretatio-
nen immer wieder gezogen (z. B. Heidegger 1961 u. Richardson 2002) und dabei
übersehen, dass der in JGB 20 Sprechende, indem er in der Folge über die
sehr konkreten und historisch kontingenten Bedingungen der Möglichkeit von
Philosophie spricht, einen Metastandpunkt einzunehmen versucht, von dem
aus die sprachlich indizierten, systemischen Zwänge bisherigen Philosophie-
rens transzendierbar erscheinen. Zu wenig reflektiert wird bei Autoren wie Hei-
degger und Richardson überdies, dass die Subsumption N.s, der als empiri-
scher Autor generell nicht vorschnell mit den Sprecherinstanzen seiner Texte
gleichgesetzt werden sollte, unter diese systemischen Zwänge wiederum über
eine weite Strecke dem Eigeninteresse der subsumierenden akademischen Phi-
losophen nach Rechtfertigung und Stabilisierung der eigenen Rolle geschuldet
ist. N. dachte nicht daran, in die Rolle des akademischen Philosophen zu
schlüpfen, die seine systematisierenden Interpreten ausleben.
34, 22-25 Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges.
Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen
Philosophirens erklärt sich einfach genug.] Der Begriff des Atavismus (vgl. NK
99, 6-8) war N. aus der Evolutionsbiologie und der Anthropologie geläufig,
etwa aus Friedrich von Hellwalds Culturgeschichte, dort definiert als Entwick-
lungsrückschritt und Wiederauftreten von Merkmalen früherer Entwicklungs-
stufen: „Einzelne Individuen und ganze Geschlechter, Racen, können nicht nur
in ihrer physischen, ethischen oder geistigen Entwicklung früher als andere
stehen bleiben, sondern sie können auch, nachdem sie schon eine gewisse
Höhe der Ausbildung erreicht haben, wieder zurückgehen, verkümmern und
/29/ verkommen.“ (Hellwald 1876-1877a, 1, 28 f. Liebmann 1880, 420, Fn. über-
setzte „Atavismus“ einfach als „Rückschlag“.) Die Übertragung des Atavismus-
Begriffs von der Biologie auf die Philosophiegeschichte war unter N.s Zeitge-
nossen durchaus geläufig; so sprach sein Studienfreund Heinrich Romundt da-
von, dass die Nicht-Unterscheidung von Schein und Erscheinung nach Kant
im 19. Jahrhundert „ein unverzeihlicher Atavismus des Geistes“ sei (Romundt
1885, 197). Leon Dumont zog an einer von N. mit mehreren Randstrichen mar-
kierten Stelle über das Trachten in der gegenwärtigen deutschen Philosophie
nach „Ascetismus“ und „Vernichtung“ ebenfalls den Begriff des Atavismus he-
ran und machte wie JGB 20 indogermanische Koinzidenzen geltend: „Auf diese
Weise ist die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts, ausgehend von dem
alten Princip der Epikuräer, zu moralischen Schlussfolgerungen gekommen,
welche ganz auf einer Stufe mit denjenigen stehen, die der Buddhismus seit
mehr als zwanzig Jahrhunderten im Orient predigt, — ein sonderbares Zusam-
nicht zu durchbrechen vermögen. Leicht wird man dadurch zum Schluss ver-
führt, dass auch N.s eigene Begriffsbildung denselben systemischen Zwängen
gehorche. Diesen Schluss haben prominente philosophische N.-Interpretatio-
nen immer wieder gezogen (z. B. Heidegger 1961 u. Richardson 2002) und dabei
übersehen, dass der in JGB 20 Sprechende, indem er in der Folge über die
sehr konkreten und historisch kontingenten Bedingungen der Möglichkeit von
Philosophie spricht, einen Metastandpunkt einzunehmen versucht, von dem
aus die sprachlich indizierten, systemischen Zwänge bisherigen Philosophie-
rens transzendierbar erscheinen. Zu wenig reflektiert wird bei Autoren wie Hei-
degger und Richardson überdies, dass die Subsumption N.s, der als empiri-
scher Autor generell nicht vorschnell mit den Sprecherinstanzen seiner Texte
gleichgesetzt werden sollte, unter diese systemischen Zwänge wiederum über
eine weite Strecke dem Eigeninteresse der subsumierenden akademischen Phi-
losophen nach Rechtfertigung und Stabilisierung der eigenen Rolle geschuldet
ist. N. dachte nicht daran, in die Rolle des akademischen Philosophen zu
schlüpfen, die seine systematisierenden Interpreten ausleben.
34, 22-25 Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges.
Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen
Philosophirens erklärt sich einfach genug.] Der Begriff des Atavismus (vgl. NK
99, 6-8) war N. aus der Evolutionsbiologie und der Anthropologie geläufig,
etwa aus Friedrich von Hellwalds Culturgeschichte, dort definiert als Entwick-
lungsrückschritt und Wiederauftreten von Merkmalen früherer Entwicklungs-
stufen: „Einzelne Individuen und ganze Geschlechter, Racen, können nicht nur
in ihrer physischen, ethischen oder geistigen Entwicklung früher als andere
stehen bleiben, sondern sie können auch, nachdem sie schon eine gewisse
Höhe der Ausbildung erreicht haben, wieder zurückgehen, verkümmern und
/29/ verkommen.“ (Hellwald 1876-1877a, 1, 28 f. Liebmann 1880, 420, Fn. über-
setzte „Atavismus“ einfach als „Rückschlag“.) Die Übertragung des Atavismus-
Begriffs von der Biologie auf die Philosophiegeschichte war unter N.s Zeitge-
nossen durchaus geläufig; so sprach sein Studienfreund Heinrich Romundt da-
von, dass die Nicht-Unterscheidung von Schein und Erscheinung nach Kant
im 19. Jahrhundert „ein unverzeihlicher Atavismus des Geistes“ sei (Romundt
1885, 197). Leon Dumont zog an einer von N. mit mehreren Randstrichen mar-
kierten Stelle über das Trachten in der gegenwärtigen deutschen Philosophie
nach „Ascetismus“ und „Vernichtung“ ebenfalls den Begriff des Atavismus he-
ran und machte wie JGB 20 indogermanische Koinzidenzen geltend: „Auf diese
Weise ist die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts, ausgehend von dem
alten Princip der Epikuräer, zu moralischen Schlussfolgerungen gekommen,
welche ganz auf einer Stufe mit denjenigen stehen, die der Buddhismus seit
mehr als zwanzig Jahrhunderten im Orient predigt, — ein sonderbares Zusam-