Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0223
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 21, KSA 5, S. 36 203

lichkeit abschütteln und so in der Lehre von der Willensunfreiheit eine Selbst-
legitimationsgrundlage finden. In 36, 12-31 verharrt der Sprechende im Modus
der Beobachtung; er schlägt sich nicht, wie es womöglich zu erwarten wäre,
vorbehaltlos auf die Seite der Starkwilligen, die als Angehörige von „eitlen Ras-
sen“ auch nicht ungeschoren davonkommen. Wie der Beobachter mit seiner
Rede von starkem und schwachem Willen der Gefahr entgehen will, selbst my-
thologisch zu reden, bleibt dunkel (vgl. Dellinger 2013b, 173).
JGB 201, KSA 5,123,15-23 deutet es als soziale „Vermürbung und Verzärtli-
chung“, dass man angefangen habe, für den Verbrecher Partei zu ergreifen,
das Strafen-Wollen zurückzustellen und ihn nur „ungefährlich machen“
zu wollen. N. hat unterschiedliche Literatur zu kriminologischen Themen gele-
sen und sich beispielsweise bei der Lektüre von Albert Hermann Posts Baustei-
nen für eine allgemeine Rechtswissenschaft (1880-1881, siehe Stingelin 1991 u.
Stingelin 2001) sowie von Joseph Kohlers einschlägigen Studien (1885a, 1885b
u. 1886) mit außereuropäischen Straf- und Präventionspraktiken vertraut ge-
macht. ,,[S]ocialistische[s] Mitleiden“ mit Verbrechern, wie es JGB 21 für die
exkulpatorischen Zeitgenossen anführt, die aller Verantwortlichkeit ledig sein
wollen und damit als Niedergangstypen erscheinen, ist keineswegs durchge-
hendes Kennzeichen dieser kriminalistischen Forschungen. Die unter N.s Bü-
chern überlieferte Psychologie des Verbrechens von August Krauss schließt bei-
spielsweise - ganz im Sinne von GM II13, KSA 5, 317, 27: „Strafe als Unschäd-
lichmachen“ - mit dem Absatz: „[Herrmann von] Valentini nennt das
Zuchthaus mehr als einmal die Hochschule des Verbrechens. Das einzige ratio-
nelle Surrogat des Zuchthauses ist die Deportation, nicht etwa blos desshalb,
weil sie die Gesellschaft von einer Pestbeule befreit, sondern weil sie in Wirk-
lichkeit im Verbrecher durch den Zwang der neuen Verhältnisse, durch die Re-
signation auf habituelle Genüsse und die Nöthigung zur Arbeit eine sittliche
Wiedergeburt zu Stande zu bringen fähig ist. / Die Todesstrafe als einzig richti-
ge Sühne des vom kalt berechnenden Eigennuz [sic] ausgeheckten Mords ist
abgesehen von den durch die geschlechtliche Differenz gegebenen Milderungs-
gründen durch keine andere Strafform zu ersezen [sic].“ (Krauss 1884, 421) So
wenig zimperlich sich der Verfasser bei der Bemessung von Strafen zeigt, verrät
doch seine Wortwahl ein deterministisches Moment, so dass bestimmte Bedin-
gungen geradezu zwangsläufig zum Verbrechen führen: „Genusssucht und Ar-
beitsscheu in immer inniger werdendem Bunde und gesteigerter Wechselwir-
kung sind die bei weitem ergiebigste Quelle des kleinen und des grossen Ver-
brechens. Denn nicht nur demoralisirt dieser Bund den Menschen in raschem
Tempo, sondern er bringt auch die Noth, die zum Verbrechen zwingt.“ (Ebd.,
418) Andere Autoren wählen demgegenüber einen distanziert-anthropologi-
schen Blickwinkel, aus dem das Verbrechen als soziales Phänomen neben an-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften