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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0230
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210 Jenseits von Gut und Böse

rend Schrift 1990, 174 argumentiert, GM sei ein Beispiel jener „psychological
investigation“, die JGB 23 einfordere (vgl. auch Pippin 2006).
Dass JGB 23 allseits programmatisch verstanden wird, dürfte wesentlich
mit der scheinbaren Eindeutigkeit der Botschaft Zusammenhängen: In Aussicht
stellt ein emphatisch auftretendes Ich (s)eine neue Psychologie, die als „Mor-
phologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht“ zu verste-
hen sei und die die moralischen Vorurteile im Psychologen selbst vertilge, so
dass diese Psychologie schließlich „wieder“ „Herrin der Wissenschaften“ wer-
den könne. Indes wäre es möglich und vielleicht sinnvoll, gerade diese Aus-
sicht auf die Herrschaft der Psychologie über die Wissenschaften als eine ironi-
sche Pointe zu deuten - als letzte Provokation jener im ganzen Ersten Haupt-
stück arg gezausten Philosophen alten Schlags, die selbstverständlich ihre
Philosophie für die „Herrin der Wissenschaften“ halten. Mit ihrem umfassen-
den Gegenstandsbereich und ihrem Anspruch, die Wirklichkeit als solche zu
verstehen, ist die neue Psychologie von JGB 23 womöglich aber nur - und dann
wäre Heidegger doch recht zu geben - ein neuer Name für eine alte Sache,
nämlich die Philosophie. Eine solche, die Relevanz und Reichweite von JGB 23
beschränkende Interpretation könnte ihre Bestätigung im Umstand finden,
dass N. in seinen letzten Schaffensjahren zwar gelegentlich und mit positiver
Konnotation Sprecherinstanzen seiner Texte als Psychologen auf- oder für die
Psychologie eintreten ließ, aber keineswegs durchgehend unter diesem Etikett
agierte oder Psychologie im umfassenden Sinne von JGB 23 verstand. In JGB 22
erschien eben noch die Philologie als Leitwissenschaft.
38, 2-9 Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und
Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe
als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu
fassen, wie ich sie fasse — daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst
gestreift: sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrieben wurde,
ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen wurde, zu erkennen.] Die Meta-
phorik der Tiefe, die den Anfang von JGB 23 bestimmt - um im Fortgang des
Abschnitts dann derjenigen der Schifffahrt zu weichen - dürfte die psychoana-
lytische und tiefenpsychologische Identifikation mit der Psychologie-Program-
matik bei N. wesentlich begünstigt haben, zumal hier ja so etwas wie ein Me-
chanismus der Verdrängung beschrieben wird: Das auf der Oberfläche des bis-
herigen psychologischen Schrifttums Erscheinende soll als „Symptom“ von
Verschwiegenem verstanden werden. Im Entwurf von KGW IX 5, W I 8, 167 ist
die Psychologie erst durch eine Korrektur „als Morphologie des »Willens zur
Macht“4 identifiziert worden, während diese Morphologie ursprünglich ohne
Bindewort einen neuen Satz einleitete. Auch die „Entwicklungslehre“ kommt
 
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