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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0231
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Stellenkommentar JGB 23, KSA 5, S. 38 211

dort erst durch einen Einschub hinzu. Aber auch diese erste Fassung betont
das völlig Neue der vom sprechenden Ich propagierten Psychologie.
Unter „Morphologie“ fasste man im zeitgenössischen Kontext „die ,Lehre
von der Gestalt4 der Naturwesen, sowohl im Ganzen als in ihren Teilen oder
Organen und ihrer Entwickelung“ (Meyer 1885-1892,11, 813). In die Morpholo-
gie wäre also die Entwicklungslehre wenigstens der lexikalischen Definition
nach eigentlich schon einbegriffen. Deutlich tritt die Intention von N.s Spre-
cher ans Licht, seine Psychologie einerseits mit den unterschiedlichen Erschei-
nungsformen - sprich: Gestalten - des Willens zur Macht beschäftigt sein zu
lassen, andererseits mit den Transformationen, sprich: Entwicklungen dieser
Erscheinungsformen. Die explizite Integration der „Entwicklungslehre“ bietet
Darwinisten (gegen die N.s Texte sonst zu polemisieren pflegen) einen An-
knüpfungspunkt, weil damit signalisiert wird, dass weder „Wille zur Macht“
noch die damit identifizierte Wirklichkeit statisch, sondern vielmehr dyna-
misch gedacht werden soll.
38, 9-13 Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistigste, in die
anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen — und, wie es
sich von selbst versteht, schädigend, hemmend, blendend, verdrehend. Eine ei-
gentliche Physio-Psychologie hat mit] In der Reinschrift korrigiert aus: „Das
Reich der moralischen Vorurtheile ist viel tiefer in den Menschen hinein mäch-
tig gewachsen, als es sich die Psychologen bisher haben träumen lassen: gar
nicht zu reden von den Naiven ä la Hobbes, welche-“ (KSA 14, 350, vgl.
KGW IX 5, W I 8, 167).
38, 9-29 Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistigste, in die
anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen — und, wie es
sich von selbst versteht, schädigend, hemmend, blendend, verdrehend. Eine ei-
gentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des
Forschers zu kämpfen, sie hat „das Herz“ gegen sich: schon eine Lehre von der
gegenseitigen Bedingtheit der „guten“ und der „schlimmen“ Triebe, macht, als
feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und
Überdruss, — noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus
den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Hab-
sucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-
Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss,
folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden
soll, — der leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrank-
heit. Und doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und
fremdeste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher Erkenntnis-
se: — und es giebt in der That hundert gute Gründe dafür, dass Jeder von ihm
 
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