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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0271
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Stellenkommentar JGB 32, KSA 5, S. 49 251

rens und eines reifen Stils. Altern bedeutet für ein gelingendes philosophisches
Leben den Zugewinn an Differenzierungsfähigkeit.
49,18 f. der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte]
Die Formulierung ist eine Variation von Friedrich Schleiermachers berühmter
Formel aus den Reden Ueber die Religion von 1799, wonach Religion „Sinn und
Geschmack fürs Unendliche“ sei (Schleiermacher 1958, 30). In N.s Bibliothek
findet sich zwar kein Werk Schleiermachers (stattdessen kalauerte er über sei-
nen Namen, vgl. NK KSA 6, 361,1-5), aber N. dürfte dieser Grundformel für die
liberale protestantische Dogmatik des 19. Jahrhunderts schon als Student, etwa
auch in Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie begegnet
sein („Wahre Wissenschaft ist vollendete Anschauung, wahre Praxis ist selbst-
erzeugte Bildung und Kunst, wahre Religion ist Sinn und Geschmack für das
Unendliche.“ Ueberweg 1866b, 3, 236). Schleiermachers Formel diente dazu,
die rationalistische Engführung von Moral und Religion zu durchbrechen und
der Religion eine eigenständige, aber dem Ästhetischen verwandte Sphäre zu-
zuweisen. Diesen Gestus der Sphärenabgrenzung nimmt JGB 31 auf, um diese
gleichzeitig zu ironisieren: Etwas „Unbedingtes“ kann N.s reifes Philosophie-
ren schwerlich noch anerkennen; entsprechend vorbehaltvoll blickt es auf das
jugendliche Bedürfnis nach dem „Unbedingten“ zurück. Damals herrschte
nicht nur ein an Schopenhauer geschultes metaphysisches Bedürfnis nach dem
„Unbedingten“, sondern dieses Bedürfnis tarnte sich wie bei Schleiermacher
das religiöse Bedürfnis ästhetisch, nämlich als „Geschmack“. Deshalb bedient
sich auch der Einwand nicht metaphysischer, sondern ästhetischer Begrifflich-
keit: „Geschmack für das Unbedingte“ zeugt von einem furchtbar schlechten
Geschmack, er ist der schiechtestmögliche aller Geschmäcker. Siehe zu 49,18 f.
(ohne Schleiermacher-Bezug) auch Ernst Behler 1985,106 f.; Tongeren 1989, 66
u. Müller-Lauter 1999a, 303.

32.
Nach KSA 14, 352 trägt dieser Abschnitt in der Reinschrift ursprünglich die
Überschrift „Die Moral als Vorurtheil“. Eine frühere Fassung lautet:
„Die längste Zeit der menschl. Geschichte ''hindurch'' wurde der Werth [oder
UnwerthJ einer Handlung nach ihren Folgen rab''gemessen; er kam also erst
hinzu, ungefähr wie heute noch die Auszeichnung oder Schande, welche einen
Chinesen trifft, eine rückwirkende Kraft rauch auf1 für seine Eltern hat. - Die
letzten Jahrtausende freilich war man auf einigen großen Strichen Tlächen''
der Erde übereingekommen, den Werth oder Unwerth reiner Hdl.'' - nach der
Absicht abzuschätzen. Heute - sollten wir nicht an der Schwelle einer [noch-
 
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