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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0351
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Stellenkommentar JGB 47, KSA 5, S. 68 331

Verheerungen, nicht immer hervorbringt, ist sie doch immer mindestens bereit
auszubrechen; sie ist ein unter der Asche glühender Brand.“) In einem 1885
erschienenen Artikel von Olga Smirnoff in der Nouvelle Revue - die N. nach-
weislich zumindest gelegentlich gelesen hat (siehe NK KSA 6, 224, 1-7) - fällt
nicht nur der Satz: „Si le genie est une nevrose, Gogol et Dostoi’eswsky etaient
fous“ (Smirnoff 1885, 23. „Wenn das Genie eine Neurose ist, waren Gogol und
Dostojewskij verrückt“), sondern Smirnoff hält zu Gogols „folie mystique“
(„mystischem Wahnsinn“) auch fest: „Voilä le grand mot de la /470/ fin ... la
nevrose religieuse, l’etat pathologique, theorie qui sevit furieusement dans nos
cercles litteraires, comme partout“ (ebd., 469 f. „Hier ist das große Wort des
/470/ Endes ... die religiöse Neurose, der pathologische Zustand, die Theorie,
die in unseren literarischen Kreisen wütend durchgreift, wie überall“).
68, 5 Busskrampf] Vgl. NK KSA 6, 374, 10-12.
68, 12-18 Noch im Hintergründe der letztgekommenen Philosophie, der Scho-
penhauerischen, steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche Fra-
gezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist Willensverneinung mög-
lich? wie ist der Heilige möglich? — das scheint wirklich die Frage gewesen zu
sein, bei der Schopenhauer zum Philosophen wurde und anfieng.] Vgl. KGW IX 5,
W I 8, 236, 12-18. Die Willensverneinung als moralische Kernforderung wollte
Schopenhauer nicht einfach nur als abstraktes philosophisches Postulat ver-
standen wissen, vielmehr sah er darin ein von Heiligen und Asketen bereits
wiederholt konkret realisiertes Ideal: „was ich hier mit schwacher Zunge und
nur in allgemeinen Ausdrücken geschildert habe, ist nicht etwan ein selbster-
fundenes philosophisches Mährchen und nur von heute: nein, es war das be-
neidenswerthe Leben gar vieler Heiligen und schöner Seelen unter den Chris-
ten, und noch mehr unter den Hindus und Buddhaisten, auch unter anderen
Glaubensgenossen. So sehr verschiedene Dogmen auch ihrer Vernunft einge-
prägt waren, sprach dennoch sich die innere, unmittelbare, intuitive Erkennt-
niß von welcher allein alle Tugend und Heiligkeit ausgehen kann, aus die glei-
che und nämliche Weise durch den Lebenswandel aus. [...] Vielleicht ist also
hier zum ersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere We-
sen der Heiligkeit, Selbst-/453/verleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Aske-
sis, ausgesprochen als Verneinung des Willens zum Leben, eintre-
tend, nachdem ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum
Quietiv alles Wollens geworden.“ (Schopenhauer 1873-1874, 2, 452 f.) Während
Schopenhauer also aus der Nähe seiner Philosophie zur religiösen asketischen
Praxis keinen Hehl machte, gilt diese Nähe bei N. als Indiz für die anhaltende
und pathologische Dominanz einer religiös bestimmten Moralität. Schopen-
hauer hat es nach dieser Sicht gerade nicht verstanden, sich aus religiös-mora-
lischer Befangenheit, aus „religiöser Neurose“ zu befreien.
 
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