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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0374
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354 Jenseits von Gut und Böse

zierten „Genuss der Grausamkeit“ (M 18, KSA 3, 30, 10f.) und in der da-
durch bedingten, asketischen Selbstquälerei zugleich ein zentraler Faktor für
die Kohäsion von (äußerlich bedrohten) Gemeinschaften erkannt. M 221 qualifi-
ziert die „Moralität des Opfers“, nämlich diejenige, „welche sich nach
der Aufopferung bemisst“, als ,,halbwilde[.] Stufe“ der kulturellen Entwicklung
(KSA 3, 195, 11-13). Dort sind unter dem Eindruck der Lektüre von Herbert
Spencers Thatsachen der Ethik (vgl. NK 74, 3-8 u. NK 74, 8-12) auch bereits
die ersten beiden in JGB 55 unterschiedenen Stufen der religiösen Grausamkeit
benannt: „Die Vernunft“ habe in jener Moral, die den Grad der Aufopferung
zum Kriterium erhebt, „nur einen schwierigen und blutigen Sieg innerhalb der
Seele [errungen], es sind gewaltige Gegentriebe niederzuwerfen; ohne eine Art
Grausamkeit, wie bei den Opfern, welche kannibalische Götter verlangen, geht
es dabei nicht ab“ (M 221, KSA 3, 195, 13-16).
Zum Thema der religiösen Grausamkeit bei N. und seinen Quellen - na-
mentlich Spencer - siehe Orsucci 1996, 181-189; zur Interpretation auch Steg-
maier 2012, 237-239.
74, 3-8 Einst opferte man seinem Gotte Menschen, vielleicht gerade solche, wel-
che man am besten liebte, — dahin gehören die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-
Religionen, dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der
Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen Anachronismen.] In GM II 7, KSA
5, 304, 21-31 wird die religiöse Grausamkeit mit der archaischen Vorstellung
einer göttlichen Lust an menschlichem Leiden assoziiert, die im Menschenop-
fer ausagiert werde: „Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott
sich erbaut4: so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls - und wirklich, war
es nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde grausamer Schauspiele ge-
dacht - oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsre europä-
ische Vermenschlichung hinein! [...] Gewiss ist jedenfalls, dass noch die Grie-
chen ihren Göttern keine angenehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten
wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen glaubt ihr denn,
dass Homer seine Götter auf die Schicksale der Menschen niederblicken liess?“
(KSA 5, 304, 21-31) Die Vorlage dafür sowie für M 18, KSA 3, 30, 15-18 lieferte
Herbert Spencer in seinen Thatsachen der Ethik: „Alle niedriger stehenden
Glaubensbekenntnisse sind von der Überzeugung durchdrungen, dass der An-
blick des Leidens für die Götter eine Freude sei: Da diese Götter sich von blut-
dürstigen Vorfahren herleiten, so hat sich ganz naturgemäss die Vorstellung
von ihnen herausgebildet, als ob sie ein Vergnügen daran fänden, Jemand
Schmerzen zuzufügen: als sie noch in diesem Leben herrschten, freuten sie
sich der Qualen anderer Wesen, und so glaubt man, der Anblick des Leidens
mache ihnen jetzt noch Freude“ (Spencer 1879, 31).
 
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