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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0381
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Stellenkommentar JGB 56, KSA 5, S. 74 361

man in der philosophischen Polemik seine Kontrahenten eines „lasterhaften
Kreisschlusses“ zu überführen. Unter den im Umfeld der Arbeit an JGB von N.
gelesenen Autoren geißelte etwa Widemann 1885, 4 (unmittelbar vor der in
NK 73, 5-28 zitierten Stelle) den „circulus vitiosus des Idealismus“ bei Kant
und Schopenhauer, oder Guyau 1885, 121 (= Guyau 1909, 82) brandmarkte den
„circulus vitiosus“ in der „Pflicht an die Pflicht zu glauben“ („Quant au ,devoir
de croire au devoir‘, c’est une pure tautologie ou un cercle vicieux“). Hält man
bei der Übersetzung der drei Schlussworte von JGB 56 an der etablierten Fü-
gung „circulus vitiosus“ fest und bezieht „vitiosus“ nicht, wie es grammatisch
zumindest möglich wäre, auf „deus“ (um so zur Übersetzung: „Der Kreis ist
ein lasterhafter Gott“ zu gelangen), so müsste man unter Hinzufügung einer
im Lateinischen entbehrlichen Kopula übersetzen: „Der lasterhafte Kreis [Teu-
felskreis] ist Gott.“ Spätestens hier ist nicht nur darauf hinzuweisen, dass die
drei lateinischen Worte Bestandteil einer Frage sind, sondern auch darauf,
dass gar nicht klar ist, wer hier überhaupt spricht und die Frage stellt. Tritt
nach der Propagierung eines großen Ja-Sagens im Gutheißen einer Ewigen
Wiederkunft ein anderer Sprecher auf den Plan, der den Wortführer unter-
bricht und kritische Rückfragen stellt (vgl. Lampert 2001,121), und damit inten-
diert, den propagierten Kreislauf als Teufelskreis der Unerlöstheit zu denunzie-
ren, der vom Bejaher zum Gott erhoben werde? Oder fällt sich der Verkünder
der Wiederkunftsaffirmation selbst ins Wort, hält inne und fragt sich, ob er
den ewigen Kreislauf zum Gott stilisiert hat? Dass der Kreislauf vitiös, laster-
haft bleibt, lässt sich auch dahingehend interpretieren, dass er gegen alle bis-
herige Moral gerichtet ist und aus deren Perspektive als lasterhaft, als böse
erscheinen muss - zugleich bleibt der Kreislauf auch für diejenigen, die den
immoralistischen Blickwinkel gewonnen haben, peinigend, grausam, ist mit
der Ewigen Wiederkunft doch auch ihr ewiges Leiden besiegelt. Ewige Wieder-
kunft negiert eine dauerhafte, höhere Entwicklungsstufe - sie negiert nachhal-
tige Weltverbesserung. Wie aber soll man bei alledem mit Gott umgehen? Wird
hier tatsächlich - zumal dann, wenn man das „vitiosus“ (auch) zu „deus“ zieht
und damit einem Gott jenseits von Gut und Böse Tür und Tor geöffnet sieht -
auf Dionysos angespielt, wie manche Interpreten glauben (vgl. Tongeren 1989,
286), und damit doch wieder ein neuer Gott an der Stelle des alten Gottes in-
stalliert, der auf der dritten Sprosse der Grausamkeitsleiter über die Klinge
springen musste? Oder greift N. hier - wie übrigens auch mit dem Gedanken
der zyklischen Wiederholung des Weltgeschehens - mit ironischer Brechung
eine alte Lehre der Stoa auf: Chrysipp hatte bereits den Kosmos, die Weltord-
nung, mit Gott identifiziert (vgl. Arnim 1903-1924, 2,168-170)? Gott käme dann
bestenfalls als bewusste Fiktion, als Ausdruck menschlicher Schaffens- und
Bejahungslust zur Geltung.
 
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