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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0439
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Stellenkommentar JGB 105, KSA 5, S. 91-92 419

vor dem Christenthum von diesen Ideen in der Welt wirklich nichts gehört?“
(Overbeck 1875, 173 = Overbeck 1994, 2, 156) Vielmehr „sollte die unbedingte
Gültigkeit, welche diese Characteristik der Macht der Menschenliebe jedenfalls
auch für die Gegenwart noch immer hat, davor warnen, hier überhaupt allzu
viel an dem Dasein oder Nichtdasein des Christenthums hängen zu lassen“
(Overbeck 1875, 174 = Overbeck 1994, 2, 157). Dass die angeblich christliche
Menschenliebe schon für die Kirchenväter beim Umgang mit Häretikern aufge-
hört hatte, reflektiert Overbeck in seinem nachgelassenen Kirchenlexicon (Over-
beck 1995, 5, 303 f.). Dabei stellt er heraus, dass es beispielsweise nach dem
Verständnis von Johannes Chrysostomos gerade ein Akt der „Menschenliebe“
war, religiöse Abweichler mit Feuer und Schwert zu verfolgen. Diese Art der
„Menschenliebe“, die N. und Overbeck wohl gemeinsam besprochen haben, ist
nach JGB 104 „heute“ ohnmächtig geworden, weil den Christen die Gewaltmit-
tel (des Staates) nicht mehr zu Gebote stehen. Entsprechend handzahm ist
auch ihre Menschenliebe geworden.

105.
92, 2-6 Dem freien Geiste, dem „Frommen der Erkenntniss“ — geht die piafraus
noch mehr wider den Geschmack (wider seine „Frömmigkeit“) als die impia
fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum Typus „freier
Geist“ gehört, — als seine Unfreiheit.] NL 1882, KSA 10, 3[1]378, 99, 9f. fasste
sich kürzer: „Dem Erkennenden ist die pia fraus noch mehr wider den Ge-
schmack als die impia fraus.“ N. benutzte die ursprünglich aus Ovid: Metamor-
phosen IX 711 („inde incepta pia mendacia fraude latebant“ - „so blieb verbor-
gen durch frommen Betrug die Verhehlung“) stammende Wendung pia fraus
oder „frommer Betrug“ gelegentlich zur Charakterisierung der scheinbar mit-
menschlich motivierten, aber doch betrügerischen Weltverbesserungsstrate-
gien von Christen, „Priestern“ und „Philosophen“, siehe ausführlich NK KSA
6, 102, 13-16. Insofern ergibt sich ein Bezug von JGB 105 zur vorangehenden
Sentenz JGB 104. Das Gegenteil, nämlich die „impia fraus“ oder der „unfromme
Betrug“ kommt bei N. zwar nur in JGB 105 sowie in 3[1]378 vor, war aber im
19. Jahrhundert schon sehr geläufig (vgl. z. B. Koeppen 1859, 2, 244, der vom
Katholizismus sagt, er sei „in allen Künsten der pia und impia fraus wohl-
erfahren“. Zu N.s früher Koeppen-Rezeption siehe Spannhake 1999). Die impia
fraus geht bereits auf Cicero: De divinatione I 4, 7 zurück („est enim periculum,
ne aut neglectis iis impia fraude aut susceptis anili superstitione obligemur“ -
„es besteht nämlich die Gefahr, dass wir einen unfrommen Frevel begehen,
wenn wir uns um diese Sachen [sc. nämlich die mit Weissagung verbundenen,
 
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