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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0444
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424 Jenseits von Gut und Böse

ist gewöhnlich seiner That nicht gewachsen, er widerruft und verleumdet
sie.“ Ursprünglich lautete diese Aufzeichnung: „Der Verbrecher ist gewöhnlich
seiner That nicht gewachsen: das hat die Verbrecher degradirt“ (KGW VII 4/1,
98). Das Problem, ob man seiner Taten gewachsen ist, hat N. in einer schließ-
lich durchgestrichenen Überlegung schon früher beschäftigt. So lautet eine No-
tiz aus dem Heft Z I 1: „Man ist oft zwar seiner Handlung gewachsen, aber
nicht seinem Bilde der gethanen Handlung.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]111, 66,
19 f.) Die Diskrepanz zwischen einer Tat und dem Bild von derselben Tat reflek-
tiert auch Zarathustra in Za I Vom bleichen Verbrecher, KSA 4, 45, 24-46, 5
unter Aufnahme des im Nachlassheft Formulierten. In dieser Diskrepanz klingt
die berühmte stoische Unterscheidung zwischen den Dingen selbst und den
Vorstellungen von diesen Dingen an, die allein die Menschen beunruhigten
(Epiktet: Enchiridion 5: „Nicht die Dinge selbst, sondern die Urtheile von den
Dingen, beunruhigen die Menschen.“ Epiktetos 1783, 13. Vgl. auch Simplikios
1867, 57 mit Anstreichung N.s - dort als Kapitel 10 des Enchiridion gezählt).
Die in JGB 109 auf den Verbrecher applizierte Gedankenfigur evoziert ein
berühmtes literaturkritisches Urteil in Wilhelm Meisters Lehrjahren (4. Buch,
13. Kapitel): Hamlet „wird bitter gegen die lächelnden Bösewichter, schwört,
den Abgeschiedenen nicht zu vergessen, und schließt mit dem bedeutenden
Seufzer: Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie
wieder einzurichten. / In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu
Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakspeare [sic] haben
[sic] schildern wollen: eine große That auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht
gewachsen ist.“ (Goethe 1853-1858,16, 295). In JGB 109 ist der Verbrecher wohl
seiner Tat oft nicht gewachsen, weil nicht einmal er die internalisierten Moral-
vorstellungen der Gesellschaft, in der und gegen die er lebt, abschütteln kann.
Vgl. zum thematischen Umfeld auch NK 104, 13 f.
110.
92, 20-22 Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das
schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.] Für diese
Sentenz, die thematisch direkt an die vorangehende anschließt, lässt sich kei-
ne Vorarbeit im Nachlass belegen; vielleicht stehen von N. mit „Gut“ markierte
Überlegungen aus Guyaus Esquisse d’une morale sans Obligation ni sanction im
Hintergrund (Guyau 1909, 298). JGB 110 hat als scheinbar prägnantes Bekennt-
nis N.s zu einer amoralistischen Betrachtungsweise, die das Verbrechen ästhe-
tisiere, vielfach Widerspruch hervorgerufen. Ob N. tatsächlich in die Rolle des
Verteidigers und Fürsprechers von Verbrechern hätte schlüpfen wollen, lässt
der Wortlaut allerdings offen. Der Satz könnte sich vor dem Hintergrund der
 
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