Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0450
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
430 Jenseits von Gut und Böse

fische Form reaktiver Unaufrichtigkeit (vgl. zum Pharisäer auch NL 1882, KSA
10,1[35], 18 f.), die es nötig erscheinen lässt, das Eigene schönzureden. Anders
liest sich die nächste Fassung in NL 1882/83, KSA 10, 5[1]56,193, 21 f., die iden-
tisch ist mit dem schließlich gedruckten Wortlaut von JGB 116. Wer beide Fas-
sungen kennt, wird sich kaum des Eindrucks erwehren können, N. habe hier
am eigenen Text genau jene Umkehrung oder Umtaufung vorgenommen, die
er schließlich als eigene lebenspraktische Maxime ausgab, während er sie ur-
sprünglich als implizite Maxime seiner Gegner diagnostisch-denunziatorisch
dingfest machen wollte. In anderem Kontext verweigert sich N. der retrospekti-
ven Schönung des selbst zu Verantwortenden, vgl. z. B. NK KSA 6, 60, 14-16.
JGB 116 diente Otto Julius Bierbaum als Motto zu seinem 1907 erschienenen
Roman Prinz Kuckuck (Kr II, 346).
117.
93, 22 f. Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille
eines anderen oder mehrerer anderer Affekte.] Leicht verkürzt hat N. diese Über-
legung bereits in NL 1882/83, KSA 10, 5[1]58, 194, 1-2 angestellt. Es gehört zu
den Grundeinsichten Spinozas, dass Affekte „nur gebändigt und aufgehoben
werden“ können „durch einen entgegengesetzten Affect, der stärker ist als der
zu bändigende Affect“ (Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata IV,
prop. 7, zitiert nach der N. wohlbekannten Geschichte der neuern Philosophie
von Kuno Fischer: Fischer 1865, 2, 490). Daher deutet Spinoza die Erkenntnis
zu einem Affekt um, der die anderen Affekte zu zähmen vermag (vgl. ebd.,
490-492). Der bewusste Affekt galt Spinoza dabei als Wille (ebd., 491). N. hat
Einschlägiges zur Abfassungszeit der Aufzeichnung 5 [1]58 auch bei der Lektüre
von Georg Heinrich Schneiders Der menschliche Wille vom Standpunkte der neu-
eren Entwicklungstheorien vorgefunden: Spinoza „zeigte, dass ein Affect nur
durch einen stärkeren Affect überwunden werden kann, nicht also durch die
Erkenntniss des Guten, sofern die-/49/selbe wahr ist, sondern nur sofern die-
selbe zugleich ein Affect der Lust und als solcher mächtiger als der entgegen-
gesetzte Affect ist. Hiermit meint Spinoza wohl dasselbe, was ich damit sagen
will“ (Schneider 1882, 48 f.).
Gegen Spinoza ist in JGB 117 ein Misstrauen in die Kraft des Erkenntniswil-
lens eingeschrieben, kommt Erkenntnis als Affekt-Bändigerin doch nicht ein-
mal zur Sprache - und der Wille ist nichts weiter als eine Funktion der Affekte.
Die Sentenz verneint eine höhere, den Affekten übergeordnete Vernunft, die
jene Affektüberwindung betreibt, welche seit den Griechen, namentlich den
Stoikern, zu einer Hauptaufgabe der philosophischen Lebensweise erklärt wor-
den ist. Den Gegensatz dieses Konzeptes zu Kant beleuchtet Risse 2005, 146
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften