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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0458
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438 Jenseits von Gut und Böse

und das Gewohnte und Alltägliche einmal als etwas sehr Ungewöhnliches und
Verwickeltes ansehn können“ (UB IV WB 4, KSA 1, 448, 22-24). In den Zahmen
Xenien hatte Goethe die Problematik des Umlernens pointiert: „»Willst dich
nicht gern vom Alten entfernen? / Hat denn das Neue so gar kein Gewicht?[‘] /
Umlernen müßte man immer, umlernen! / Und wenn man umlernt, da lebt
man nicht.“ (Goethe 1853-1858, 3, 74) JGB125 liest sich hingegen wie die Glosse
zu einer Beobachtung, die der von N. anscheinend geschätzte Gustav (von)
Rümelin - „soviel ich mich entsinne, sprach Herr Professor Nietzsche nicht
ohne Anerkennung von Rümelin“ (Köselitz an Overbeck, 06.12.1879 - Over-
beck/Köselitz 1998, 40) - in einer Rede Ueber das Wesen der Gewohnheit ange-
stellt hat: „Das Neue ist [...] insoweit unwillkommen, als es uns zum Umlernen
nöthigt, unseren Besiz [sic] entwerthet, unser Conzept verrückt. In diesem Con-
flict von Motiven zieht nun das die Lustreize gegen einander abwägende Ich
die Bilanz gern zu Gunsten der Seite, welche ihm die Anstrengung und das
Umlernen erspart. Es zieht das Alte nicht vor, weil es das Alte ist, sondern weil
das Neue Unbequemlichkeiten bringt“ (Rümelin 1881, 167).
126.
95, 7-9 Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen Män-
nern zu kommen. — Ja: und um dann um sie herum zu kommen.] Der im Singular
etwas geziert wirkende und vor N. im Zusammenspiel mit der Natur nicht be-
legbare „Umschweif“ ist in der Vorstufe von NL 1882, KSA 10, 3[1]433,105,18 f.
noch ein simpler „Umweg“: „Ein Volk ist der Umweg der Natur, zu 5, 6 großen
Männern.“ Und auch der ironische Nachsatz fehlte hier noch. Dieser Nachsatz
unterscheidet JGB 126 vom kontinuierlichen Strom jener Äußerungen N.s, die
vor dem Hintergrund der Genie-Tradition in der Hervorbringung großer Indivi-
duen den Zweck der Weltgeschichte sehen (vgl. Sommer 2011c). Im Frühwerk
sind derlei Äußerungen ebenfalls präsent (z. B. UB II HL 9, KSA 1, 317, 24-26:
„Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in
ihren höchsten Exemplaren“) wie in den alterletzten Umwertungsschriften
(vgl. AC 3 bis 4, dazu NK KSA 6, 170, 18-22; NK KSA 6, 170, 23-28 u. NK KSA
6, 171, 9-17).
Ni Dhüill 2009,131 f. analysiert den Gebrauch, den Ernst Bertram bei seiner
Heroisierung N.s von JGB 126 macht (Bertram 1922, 202). JGB 126 ist auch der
Subtext der ersten Strophe von Gottfried Benns Gedicht Dennoch die Schwerter
halten (1933), das in der zweiten Strophe mit der Beschwörung des „Sils-Maria-
Wind[s]“ die Nietsche-Referenz/Reverenz explizit macht: „Der soziologische
Nenner, / der hinter Jahrtausenden schlief, / heißt: ein paar große Männer /
und die litten tief.“ (Benn 1986, 1, 174).
 
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