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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0460
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440 Jenseits von Gut und Böse

vor diesem Hintergrund geschrieben haben könnte - bezeichnenderweise im
Unterschied zu seiner emanzipatorisch inspirierten Vorgängerin ohne genealo-
gisches Interesse an der Herkunft der Schambelegung von Wissenschaft für
Frauen. In JGB 235 wird Madame de Lambert zitiert, wenn auch aus zweiter
Hand, siehe NK 173, 11-13.
128.
95,15 f. Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst
du noch die Sinne zu ihr verjähren.] Entsprechend stellte N. in den Tautenburger
Aufzeichnungen für Lou von Salome eingehende Überlegungen über den ange-
messenen Stil des Schreibens an - das eine „Nachahmung“ des Sprechens sein
soll (NL 1882, KSA 10,1[45], 22,13). Da heißt es dann auch: „Der Stil soll bewei-
sen, daß man an seine Gedanken glaubt, und sie nicht nur denkt, sondern
empfindet. /**/ Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr
muß man erst die Sinne zu ihr verführen.“ (23, 1-4, vgl. zu einem von N. hier
gestrichenen Satzfragment KGW VII 4/1, 46, fast gleichlautend zum Zitat der
Passus in NL 1882, KSA 10, l[109], 39, 6-10 = N. an Lou von Salome, 08.-
24. 08.1882, KSB 6/KGB III/l, Nr. 288, S. 244. Z. 31 f.) In NL 1882/83, KSA 10,
5[l]5O, 193, 7f. ist der Ratschlag, der schließlich zu JGB 128 werden sollte, be-
reits aphoristisch von seinem ursprünglichen Kontext genereller Stilreflexio-
nen isoliert.
Simonis 2002, 59 f. hebt nicht nur die paradoxale Verschränkung der bei-
den gemeinhin als unzusammengehörig empfundenen Begriffe Wahrheit und
Verführung hervor, sondern interpretiert die an Lou von Salome adressierten
Notate von 1882 auch im Zusammenhang mit N.s Werben um die junge Russin.
„Die genannten Thesen zum Stil waren zunächst als persönlich-intime Mittei-
lungen, gleichsam als Liebesbekundungen des Verfassers, an Lou adressiert“
(ebd., 60), mithin als Versuch der Verführung - wozu auch immer. Der Gedan-
ke, dass der Philosoph zur Wahrheit verführen wolle, ist spätestens seit Sokra-
tes’ Auseinandersetzung mit den Sophisten ein Thema der Philosophie, das
freilich so kaum explizit gemacht wird, da es am Selbstbild der Philosophen
kratzt, die sich eben nicht als Verführer zur, sondern als Verkündiger der Wahr-
heit verstehen wollen. Eine seltene Ausnahme findet sich in der von N. gelese-
nen Übersetzung von Madame de Staels De l’Allemagne, wo es in den „Allge-
meinen Bemerkungen über die deutsche Philosophie“ heißt: „Es kommt mir
also vor, als ob man, mit aller Bewunderung für die Denkkraft und das gründli-
che Genie Leibnitzens, in seinen Schriften über metaphysische Theologie mehr
Einbildungskraft und /53/ Gefühl antreffen sollte, um vom Nachdenken in der
Rührung ausruhen zu können. Leibnitz machte sich beinahe ein Gewissen da-
 
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