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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0547
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Stellenkommentar JGB 195, KSA 5, S. 116-117 527

ums gegen die Welt, die Reichen und die Mächtigen. Luxus wird dort darge-
stellt wie ein Verbrechen. [...] Der Name des ,Armen4 (ebiori) war zu einem Sy-
nonym des »Heiligen4, des »Freundes Gottes4 geworden. Das war der Name, den
die galiläischen Jünger Jesu sich zu geben liebten.44 Zur „Verachtung der
»Welt444 , „mepris du »monde444 vgl. ebd.» 194 f.).
Nirgends bei Renan 1867 steht jedoch jener in der Aufzeichnung aus W 11
eingeklammerte Satz „Der Jude und Syrer als geboren zur Sklaverei nach Taci-
tus“, der schließlich, unter Weglassung der Syrer und mit Anführungszeichen
als vermeintliches Zitat markiert, nicht nur den Auftakt von JGB 195 bildet,
sondern überhaupt erst die Assoziation der Juden mit Sklaven, die Rede vom
„Sklaven-Aufstand in der Moral“ und „Sklaven-Moral“ (JGB260,
KSA 5, 208, 25) ermöglicht. N.s Interpreten pflegen zur Verifikation des gelehr-
ten Hinweises auf den berüchtigten Judenexkurs in den Historien (V 1-13) des
römischen Historikers Publius Cornelius Tacitus (ca. 58-120 n. Chr.) zu verwei-
sen, insbesondere auf Historien V 8, wonach die Assyrer, die Meder und die
Perser die Herren des Orients gewesen seien, die Juden hingegen „despectissi-
ma pars servientium“, der „verachtungswürdigste Teil der Sklaven“ oder der
„Dienenden“. Da W I 1 aber ausdrücklich neben den Juden auch die Syrer
nennt, kann diese Tacitus-Stelle nicht die Vorlage gewesen sein. Tatsächlich
wird hier der zweifellos judenfeindliche Tacitus mit Marcus Tullius Cicero (107—
44 v. Chr.) verwechselt, bei dem in De provinciis consularibus V 10 jemand be-
klagt, er sei in die Sklaverei von Juden und Syrern geraten, „Völkerschaften,
geboren zur Sklaverei“ („Judaeis et Syris, nationibus natis servituti“).
Diese Stelle wiederum zitierte Renan in Les Apotres, dem Folgewerk seiner
Vie de Jesus und dem zweiten Band der Histoire des origines du Christianisme:
„Presque ä Legal du Juif, souvent de compagnie avec lui, le Syrien etait un
actif instrument de la conquete de l’Occident par l’Orient. On les confondait
parfois, et Ciceron croyait avoir trouve le trait commun qui les unissait en les
appelant ,des nations nees pour la servitude4. C’etait lä ce qui /296/ leur assu-
rait l’avenir; car l’avenir alors etait aux esclaves.“ (Renan 1866, 295 f. „Fast
dem Juden gleich, häufig in seiner Gesellschaft, war der Syrer ein aktives Ins-
trument der Eroberung des Okzidents durch den Orient. Man verwechselte sie
bisweilen, und Cicero glaubte den gemeinsamen Zug, der sie verbindet, gefun-
den zu haben, indem er sie »Nationen, geboren zur Sklaverei4 nannte. Das war
es, was ihnen die Zukunft sicherte, denn die Zukunft gehörte den Sklaven.“)
Offensichtlich bezog N., der sich gelegentlich auch über die sklavische Mentali-
tät von Juden - und Deutschen! - unter seinen Zeitgenossen Gedanken machte
(vgl. NL 1884, KSA 11, 25[441], 130, 1-12), seine Inspiration zum angeblich jüdi-
schen „Sklavenaufstand in der Moral“ aus dieser Renan-Passage, die er wohl
nur aus dem Gedächtnis aufrief und dabei Cicero versehentlich gegen Tacitus
 
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