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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0555
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Stellenkommentar JGB 198, KSA 5, S. 118 535

us: De vitis VII 90, die in der von N. benutzten Übersetzung lautet: „Tugend ist
aber theils eine gewisse allgemeine Vollkommenheit, wie einer Bildsäule
[(jjcmEp ävöptavTOc;], theils eine unsichtbare, wie die Gesundheit, theils eine
spekulative, wie die Klugheit.“ (Diogenes Laertius 1807, 2, 46) Schon NL 1881,
KSA 9, 15[55], 653, 4 u. 13-17 greift zur Kennzeichnung der stoischen Haltung
auf die topische Vorstellung von statuenhafter Kälte zurück; „Starrheit und
Kälte“ lauteten die Betäubungsmittel des Stoizismus: „Versteinerung als
Gegenmittel gegen das Leiden, und alle hohen Namen des Göttlichen der Tu-
gend fürderhin der Statue beilegen. Was ist es, eine Statue im Winter umar-
men, wenn man gegen Kälte stumpf geworden ist? — was ist es, wenn die
Statue die Statue umarmt!“ Zu N.s Auseinandersetzung mit der stoischen Ethik
siehe JGB 9, KSA 5, 21 f., ferner Neymeyr 2009.
118, 23-25 jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine
so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion der-
selben] Diese „Vivisektion“, also Untersuchung am lebenden Objekt, leistet Spi-
noza in Ethica ordine geometrico demonstrata III: De affectibus. „Die Lehre von
den menschlichen Leidenschaften ist das Meisterstück Spinoza’s“, meinte
Kuno Fischer dazu (Fischer 1865, 2, 348), N.s Hauptgewährsmann, der diese
Lehre ausführlich behandelte (ebd., 2, 347-385). Was das Weinen und Lachen
angeht, so scheint JGB 198 auf eine andere Stelle bei Fischer anzuspielen, näm-
lich: „In der Betrachtungsweise Spinozas giebt es nichts, das anders sein könn-
te oder sollte als es in Wahrheit ist, also nichts, worüber man im Ernste lachen
oder weinen oder sich empören könnte. Daher jenes mächtige Wort, das ihm
/235/ Viele nachgesprochen, aber keiner, wie er, erfüllt hat: ,man muß die
Handlungen der Menschen weder beklagen noch belachen noch verabscheuen,
sondern begreifen/“ (Ebd., 2, 234 f.; die Quelle des Zitats ist Spinoza: Tractatus
politicus § IV).
118, 25-27 jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass,
bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral] „Aristo-
telismus“ ist im Druckmanuskript von N. korrigiert worden aus „Sokratismus“
(KSA 14, 360). Offenkundig sollte hier ursprünglich gar nicht Aristoteles ange-
griffen werden. Vielleicht hat ihn bei der Revision die von ihm gebrauchte Me-
tapher des Mittelmaßes, die er zunächst dem Sokratismus anheftete (seiner
biederen Variante bei Xenophon?), assoziativ den Weg zu Aristoteles geebnet,
der bekanntlich die Tugend als eine pEcroTpc;, eine Mitte zwischen zwei Lastern,
einem Zu-Viel und einem Zu-Wenig bestimmt hatte, vgl. Nikomachische Ethik
II 6, 1106b-1107a. Der philologische Befund zu JGB 198 bietet indes keine gesi-
cherte Grundlage, um - wie es in der Forschung gerne geschieht (vgl. Magnus
1980, 262 u. Daigle 2006,1 f.) - darüber zu spekulieren, wie N. sich zur Aristote-
 
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