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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0557
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Stellenkommentar JGB 199, KSA 5, S. 118 537

winistische Konsequenz einer negativen Selektion: „der Heerden-Instinkt des
Gehorsams“ rottet die „Kunst des Befehlens“ (119, 22-24) letztlich aus und
zwingt die „Befehlshaber und Unabhängigen“ (119, 26), zu Winkelzügen Zu-
flucht zu nehmen, die das Befehlen-Wollen als Gehorsam tarnen. Deshalb habe
sich in Europa „die moralische Heuchelei der Befehlenden“ (119, 30 f.) ausge-
breitet, die jetzt ihren Herrschaftswillen entweder als Willfährigkeit gegenüber
einem höheren Willen oder gegenüber der „Heerden-Denkweise“ (120, 3) de-
klariere. Der Herdenmensch genieße höchstes Ansehen, und man glaube,
durch Summierung „kluger Heerdenmenschen“ (120, 13 f.) auf Befehlende ver-
zichten zu können (vgl. dazu die Zuspitzung NK KSA 6, 61, 7 f.). Von diesem
„unerträglich werdenden Druck“ (120,16) soll schließlich der unbedingt befeh-
lende Napoleon befreit haben - also nicht als europäischer Verbreiter der als
herdenmoralisch diskreditierten Errungenschaften der Französischen Revoluti-
on, sondern als tyrannischer Willensmensch, der allein seinem eigenen Macht-
durst gehorcht hat.
Eine solche Darstellung, die in Napoleons Erscheinen „beinahe die Ge-
schichte des höheren Glücks“ (120, 20 f.) realisiert findet, muss sich freilich
befragen lassen, wer unter einem solchen „unerträglich werdenden Druck“ ge-
litten haben soll, da doch angeblich alle Menschen auf das Gehorsamsbedürf-
nis geeicht sind, das sich fast vollständig verwirklicht hat: Nimmt man die
vorangegangene Diagnose einer negativen Selektion ernst, kann eigentlich nie-
mand irgendeinen Druck empfunden haben, bevor Napoleon ihn löste. Viel-
leicht ist das Bedürfnis zu befehlen einfach nur ein stammesgeschichtlicher
Atavismus, der sich im Laufe menschlicher Entwicklung verflüchtigt. Woher
rührt die Rechtfertigung, gegen eine solche Entwicklung zu opponieren, falls
sie ein natürliches Verlaufsschema darstellt? Was für eine platonisierende Anti-
Weltlichkeit läge in einer solchen Opposition? Unbewiesen bleibt so oder so,
dass das Befehlsbedürfnis in irgendeinem kausalen Zusammenhang zum Auf-
treten von „werthvollsten Menschen und Augenblicken“ (120, 22) steht.
Historisch konkretisiert anhand des Christentums ebenso wie an Kant, der
Französischen Revolution und Victor Hugo wird die Geschichte vom Herden-
instinkt in NL 1885, KSA 11, 34[85], 446 f. (entspricht KGW IX 1, N VII1, 139 f.)
erzählt. Haase 1989, 645 weist auf den bestimmenden Einfluss von Francis Gal-
tons Inquiries into Human Faculty and Its Development hin, der die Analogie
von Herde und Menschen breit ausgeführt hat: „The conclusion to which we
are driven is, that few of the Damara cattle have enough originality and inde-
pendence of disposition to pass unaided through their daily risks in a tolerably
comfortable männer. They are essentially slavish, and seek no better lot than
to be led by any one of their number who has enough self-reliance to /74/
accept that Position. No ox ever dares to act contrary to the rest of the herd,
 
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