Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0640
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
620 Jenseits von Gut und Böse

so schaden wie die Laster. Wissen Sie, was das ist? Die Epoche des völligen
Verfalls Europas und der Auswanderung nach Amerika ist gekommen. Alles
fällt hier in Fäulnis: Religion, Gesetze, Künste, Wissenschaften; und alles wird
sich von Neuem aufbauen in Amerika. Das ist kein Spass, auch keine aus engli-
schen Streitigkeiten gezogene Idee: Ich hatte es gesagt, angekündigt, gepredigt
vor /226/ mehr als zwanzig Jahren und ich habe meine Prophezeiungen immer
sich erfüllen sehen“).

223.
JGB 223 und JGB 224 machen den „historischen Sinn“ (157, 28) als Mo-
ment „unserer Tugenden“ wieder salonfähig - nicht als Infektion mit einer
neuen historischen Krankheit, sondern als Fähigkeit, sich im immensen histo-
risch-moralischen Feld souverän zu bewegen vielleicht dass, wenn auch
Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft
hat!“ (157, 23-25).
157, 2-15 Der europäische Mischmensch — ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles
in Allem — braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nöthig als die
Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht
auf den Leib passt, — er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte
Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden an;
auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns „nichts steht“ —.
Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder ba-
rokko oder „national“ vorzuführen, in moribus et artibus: es „kleidet nicht“! Aber
der „Geist“, insbesondere der „historische Geist“, ersieht sich auch noch an die-
ser Verzweiflung seinen Vortheil: immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und
Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt] Das Wort
„Mischmensch“, das N. nur hier benutzt, ist kein Neologismus; es kam, wenn
auch selten, im 19. Jahrhundert als Synomym für „Mischling“ vor, in Johann
Friedrich Heigelins Fremdwörter-Handbuch auch als Übersetzung für „Mulat-
te“, „halb Europäer und Amerikaner“ (Heigelin 1838, 676). In GD Die „Verbes-
serer“ der Menschheit 3 sollte N. das Wort potenzieren zum „Mischmasch-Men-
schen“, und zwar bezogen auf den „Tschandala“, den Abkömmling unerlaub-
ter Kastenmischung im alten Indien. Vorlage war dort die krude antisemitische
Bearbeitung des Manu-Gesetzbuches von Jacolliot 1876, vgl. NK KSA 6, 100,
17 f. Während JGB 223 dem alle Stile durchprobierenden plebejischen „Misch-
menschen“ das Feld überlässt, konfrontiert ihn NL 1884, KSA11, 26[98], 176,
11-18 noch direkt mit heute fehlenden „großen Geistern“, denen gegenüber es
ihm an „Ehrfurcht“ mangle: „Die historische Manier unsrer Zeit ist zu erklären
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften