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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0712
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692 Jenseits von Gut und Böse

Routine [...] ein Haupt-Erklärungsgrund für den Charakter ihrer Werke“ (Wag-
ner 1870, 31).
187, 9-21 wer darf zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schme-
cken Beethoven’s vorbei sein wird! — der ja nur der Ausklang eines Stil-Über-
gangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang eines grossen
Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven ist das Zwischen-Be-
gebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer zukünftigen
überiungen Seele, welche beständig kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwie-
licht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, — das selbe
Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um
den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe an-
gebetet hatte.] Das hier gezeichnete Beethoven-Bild ist demjenigen entgegenge-
setzt, das die Basis des Komponisten-Bildes in N.s Frühwerk dargestellt hat
(vgl. z. B. GT 19, KSA1,127 oder UBIV WB 9, KSA1, 491-493), nämlich dem Bild
aus Wagners 1870 erschienener Beethoven-Festschrift, die N. offensichtlich in
der Entstehungszeit von JGB noch einmal konsultierte (NL 1884, KSA 11,
25 [497], 144 bezieht sich polemisch auf Wagners Versuch, Beethoven mit
Shakespeare zu synthetisieren, vgl. Wagner 1870, 51-57). Wagner stilisierte
Beethoven zu einer Lichtgestalt, die ihre angeblich unvergleichliche Größe da-
durch gewonnen habe, dass sie sich von allem Zeittypischen abwandte: „es
kam die Herrschaft der Mode; wie der Geist der Kirche der künstlichen Zucht
der Jesuiten verfiel, so ward mit der Bildnerei auch die Musik zur seelenlosen
Künstelei. Wir verfolgten nun an unserem großen Beethoven den wundervollen
Prozeß der Emanzipation der Melodie aus der Herrschaft der Mode, und bestä-
tigten, daß er, mit unvergleichlich eigenthümlicher Verwendung all des Materi-
ales, welches herrliche Vorgänger mühevoll dem Einflüsse dieser Mode entzo-
gen hatten, der Melodie ihren ewig gültigen Typus, der Musik selbst ihre un-
sterbliche Seele wiedergegeben habe“ (ebd., 68).
JGB 245 zeichnet Beethoven hingegen als einen gebrochenen Charakter,
der - analog zu Goethes Faust - nicht nur eine, sondern ,zwei Seelen in der
Brust4 hatte, die nicht zu einer Einheit fanden. Der Komponist erscheint also
als eine romantisch angekränkelte Figur - ein Eindruck, den dann auch ein
(nicht gekennzeichnetes) Exzerpt aus Taine 1858, 296 in NL 1886/87, KSA 12,
7[7], 286, 2-4 bestätigt -, nicht als derjenige, durch den die Musik die „Befähi-
gung“ erlangt hat „weit über das Gebiet des ästhetisch Schönen in die Sphäre
des durchaus Erhabenen [zu treten], in welcher sie von jeder Beengung durch
traditionelle oder konventionelle Formen vermöge vollster Durchdringung und
Belebung dieser Formen mit dem eigensten Geiste der Musik befreit ist“ (Wag-
ner 1870, 46). Nach NL 1885, KSA 11, 34[211], 493 (entspricht KGW IX 1, N VII
1, 46, 36-40 u. 45, 32-38) war auch dieses Erhabenheitsstreben ein typisch
 
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