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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0813
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Stellenkommentar JGB 287, KSA 5, S. 232-233 793

Während JGB 287 zwar auch den „Glauben“ bemüht, wird dort aber die
Werkgerechtigkeit, wonach Vornehmheit durch „Werke“, sprich: durch Arbeit
zu erlangen sei, nachdrücklich ausgeschlossen. Das Argument dafür klingt fast
kantianisch: „Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich“ (233,
2 f.). Sie sind es, weil niemand - womöglich auch der Handelnde nicht - weiß,
was (welche Maxime, welcher Wille) sie denn eigentlich hervorgebracht hat.
Wenn JGB 287 im Folgenden stattdessen auf den „Glauben“ setzt, wird vor-
nehm verschwiegen, dass dort die Unergründlichkeit nicht geringer, sogar eher
noch größer ist, weil dieser „Glaube“ oder die „vornehme Seele“ (233, 13 u.
233, 15) schlicht keine phänomenale Seite hat: Weder Glaube noch Seele sind
sichtbar; man mag sie mittelbar erschließen, aber sie bleiben gleichermaßen
unergründlich. Daher könnte man den Rekurs auf den „Glauben“ hier für eine
ironische Ausflucht in die Sphäre intellektueller Unbelangbarkeit halten - zu-
mal die Argumentation ins Zirkuläre entgleitet: Warum sollte aus meinem
Glauben an meine Vornehmheit diese Vornehmheit selbst folgen? Müsste man
dann nicht beispielsweise auch konzedieren, dass aus meinem Glauben an
meine Göttlichkeit ebendiese Göttlichkeit zwangsläufig folge?
Überdies scheint derjenige, der die Frage stellen muss, was vornehm ist,
aus dem Modus der „Grundgewissheit“ (233, 13) herausgefallen zu sein, die
angeblich die „vornehme Seele“ auszeichnet. Denjenigen „Künstlern und Ge-
lehrten“ (233, 4), die sich nach Vornehmheit verzehren, fehle diese „Grundge-
wissheit“ - sie sind gerade nicht vornehm, wenn das ein Zustand der Selbstsi-
cherheit ist, die auf alle Suche verzichten kann. Der Fragende, zumal mit dem
Akzent darauf, was „uns heute“ „das Wort ,vornehm“4 (232, 25 f.) bedeute,
scheint sich ebensowenig solcher „Grundgewissheit“ zu erfreuen, würde sich
ihm die Frage doch sonst nicht stellen. Das unablässige Fragen macht Philoso-
phieren zwar wesentlich aus, scheint aber nach den Maßstäben von JGB 287
eine unvornehme, weil der „Grundgewissheit“ entgegenstehende Haltung zu
sein. Gibt es trotz der scheinbar simultanen Bekenntnisse zur Vornehmheit und
zu einer fragelustigen Philosophie der Zukunft einen abgründigen Graben zwi-
schen dieser Vornehmheit und der Philosophie? Sind auch die Philosophen
der Zukunft wie der paradigmatische Philosoph der Vergangenheit, nämlich
Sokrates, prinzipiell unvornehm? Wäre es nicht vornehm, alle Fragen abzublo-
cken oder sie ungehört verhallen zu lassen?
233, 3 es sind auch die „Werke“ nicht] Vgl. NK 233, 9-12.
233, 9-12 Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der
hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und
tieferen Verstände wieder aufzunehmen] Die „alte religiöse Formel“ ist die des
Protestantismus namentlich lutherischer Prägung im Anschluss an den Römer-
 
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