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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0034
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Überblickskommentar 15

ruhe; vereinzeltes Wetterleuchten; sehr unangenehme Wahrheiten aus der Fer-
ne her mit dumpfem Gebrumm laut werdend, — bis endlich ein tempo feroce
erreicht ist, wo Alles mit ungeheurer Spannung vorwärts treibt. Am Schluss
jedes Mal, unter vollkommen schauerlichen Detonationen, eine neue Wahr-
heit zwischen dicken Wolken sichtbar." (EH GM, KSA 6, 352, 7-15) Dass GM
tatsächlich so komponiert ist, scheint allerdings kein zwingender Befund bei
einer (von N.s retrospektiver Schilderung in EH) unvoreingenommenen Lektüre
des Werks. Überdies sind die drei „Wahrheiten", die jeweils angeblich erst
„[a]m Schluss" kundgetan werden, im GM-Text selbst schon lange vor dem
Ende und weniger holzschnittartig präsent, als EH GM, KSA 6, 352, 15-353, 7
glauben machen will: „Die Wahrheit der ersten Abhandlung ist die Psycholo-
gie des Christenthums: die Geburt des Christenthums aus dem Geiste des Res-
sentiment, nicht, wie wohl geglaubt wird, aus dem ,Geiste', — eine Gegenbe-
wegung ihrem Wesen nach, der grosse Aufstand gegen die Herrschaft vor-
nehmer Werthe. Die zweite Abhandlung giebt die Psychologie des
Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, „die Stimme Gottes
im Menschen", — es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wen-
det, nachdem er nicht mehr nach aussen hin sich entladen kann. Die Grausam-
keit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Cultur-Untergründe hier zum
ersten Male ans Licht gebracht. Die dritte Abhandlung giebt die Antwort auf
die Frage, woher die ungeheure Macht des asketischen Ideals, des Priester-
Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädliche Ideal par excellence, ein
Wille zum Ende, ein decadence-Ideal ist. Antwort: nicht, weil Gott hinter den
Priestern thätig ist, was wohl geglaubt wird, sondern faute de mieux, — weil
es das einzige Ideal bisher war, weil es keinen Concurrenten hatte." N. ist in
EH zwar kein zuverlässiger Interpret in eigener Sache, versteht es aber glän-
zend, auf sein Schrifttum aufmerksam zu machen. Während der früher so be-
tonte Bezug von GM auf JGB vollständig entfällt, wird jetzt jener Bezug herge-
stellt, der sich mit N.s Re-Lektüre von GM während der Niederschrift von AC
und der Korrespondenz mit Meta von Salis aufdrängte, nämlich derjenige zur
Umwerthung aller Werthe als Begriff und als Buchprojekt: Die Abhandlungen
der GM gelten nun als ,,[d]rei entscheidende Vorarbeiten eines Psychologen für
eine Umwerthung aller Werthe" (EH GM, KSA 6, 353, 10-12).
Ende 1888 griff N. beim Arrangement des Collagen-Werks Nietzsche contra
Wagner (NW) noch einmal auf GM zurück, indem er sich für die Abschnitte 2
und 3 des Kapitels „Wagner als Apostel der Keuschheit" bei GM III 2 und 3
bediente (KSA 5, 340-343, vgl. im Einzelnen NK 6/2, S. 767-774). Ein letztes
Mal kommt GM in N.s Brief an Köselitz vom 30. 12. 1888 zur Sprache, als der
Verfasser bereits in eine weltgeschichtliche Schicksalsrolle aufgerückt zu sein
glaubte: „Dann bekam ich ein Huldigungsschreiben von meinem Dichter Au-
 
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