16 Zur Genealogie der Moral
guste Strindberg, einem veritablen Genie zu Ehren meiner ,grandiosissime Ge-
nealogie de la Morale', mit seinem Ausdruck de sa profonde admiration."
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 1227, S. 565, Z. 18-21) Beide Wendungen fallen zwar in
Strindbergs kurzem Dankesschreiben vom 27. 12. 1888 für einen längeren Brief
N.s sowie für die Zusendung von GM; dieses Dankesschreiben macht allerdings
eher einen höflich-interessierten als einen euphorisch-enthusiasmierten Ein-
druck (KGB III 6, Nr. 639, S. 405 f.). Fremd- und Selbstwahrnehmung N.s konn-
ten zeit seines bewussten Lebens nicht zueinander finden.
3 Quellen
Im Unterschied zur Mehrzahl seiner anderen Schriften spielt N. in GM mit dem
Anschein traditioneller Wissenschaftlichkeit. Die Sprecherinstanz diskutiert
Forschungspositionen (und weist sie zurück), stellt Hypothesen auf und bringt
zu deren Erhärtung Quellenauszüge bei, namentlich zahlreiche Zitate klassi-
scher Autoren seit der Antike. In den meisten Fällen verdankt sich diese Quel-
lenkenntnis jedoch nicht entsprechenden Original-Lektüren, sondern stammt
aus der Beschäftigung mit jüngerer Forschungsliteratur unterschiedlicher Dis-
ziplinen. Das gilt auch für die Bezugnahme auf sprach-, rechts- und moralge-
schichtliche Theoreme, die das sprechende „Ich" mitunter stillschweigend
übernimmt und öfter wortreich zurückweist. Dabei wird in GM das Herkommen
des jeweiligen Wissens so systematisch verschwiegen, dass derjenige, der sich
ernsthaft mit dieser Schrift beschäftigen will, gezwungen ist, selbst zum Genea-
logen zu werden (vgl. Sommer 2000b), der die verschleierten und ins Verges-
sen gestoßenen Herkünfte der hier inszenierten Denkbewegungen erschließt.
Quellenforschung ist eine vordringliche genealogische Aufgabe, die nachvoll-
ziehbar zu machen hilft, wie N. denkt und schreibt, nämlich oft genug angele-
senes Material umgestaltet.
Nennt N. die (sekundären) Urheber dieses Materials in GM selbst nicht
beim Namen, gibt es doch eine Reihe von Wegen, sie sich zu erschließen. Da
wäre zunächst N.s weitgehend erhaltene Privatbibliothek (vgl. NPB), die N. als
jemanden zeigt, der häufig mit dem Stift in der Hand liest und in seinen Bän-
den diverse Lesespuren hinterlässt. Sodann geben der Nachlass und auch die
Briefe N.s bereitwilliger als die Werke Auskunft über die tatsächlichen Lektü-
ren, wobei jedoch aus bloßen Erwähnungen noch nicht folgt, dass N. das ent-
sprechende Buch auch tatsächlich gelesen und fürs Eigene verwertet hat. So
erwähnt er im Brief an Malwida von Meysenbug vom 30. 07. 1887 (KSB 8/
KGB III 5 Nr. 884, S. 119, Z. 65-67) die Dissertation von Meta von Salis über
Agnes von Poitou. Kaiserin von Deutschland. Obwohl sie immerhin ein Nietz-
guste Strindberg, einem veritablen Genie zu Ehren meiner ,grandiosissime Ge-
nealogie de la Morale', mit seinem Ausdruck de sa profonde admiration."
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 1227, S. 565, Z. 18-21) Beide Wendungen fallen zwar in
Strindbergs kurzem Dankesschreiben vom 27. 12. 1888 für einen längeren Brief
N.s sowie für die Zusendung von GM; dieses Dankesschreiben macht allerdings
eher einen höflich-interessierten als einen euphorisch-enthusiasmierten Ein-
druck (KGB III 6, Nr. 639, S. 405 f.). Fremd- und Selbstwahrnehmung N.s konn-
ten zeit seines bewussten Lebens nicht zueinander finden.
3 Quellen
Im Unterschied zur Mehrzahl seiner anderen Schriften spielt N. in GM mit dem
Anschein traditioneller Wissenschaftlichkeit. Die Sprecherinstanz diskutiert
Forschungspositionen (und weist sie zurück), stellt Hypothesen auf und bringt
zu deren Erhärtung Quellenauszüge bei, namentlich zahlreiche Zitate klassi-
scher Autoren seit der Antike. In den meisten Fällen verdankt sich diese Quel-
lenkenntnis jedoch nicht entsprechenden Original-Lektüren, sondern stammt
aus der Beschäftigung mit jüngerer Forschungsliteratur unterschiedlicher Dis-
ziplinen. Das gilt auch für die Bezugnahme auf sprach-, rechts- und moralge-
schichtliche Theoreme, die das sprechende „Ich" mitunter stillschweigend
übernimmt und öfter wortreich zurückweist. Dabei wird in GM das Herkommen
des jeweiligen Wissens so systematisch verschwiegen, dass derjenige, der sich
ernsthaft mit dieser Schrift beschäftigen will, gezwungen ist, selbst zum Genea-
logen zu werden (vgl. Sommer 2000b), der die verschleierten und ins Verges-
sen gestoßenen Herkünfte der hier inszenierten Denkbewegungen erschließt.
Quellenforschung ist eine vordringliche genealogische Aufgabe, die nachvoll-
ziehbar zu machen hilft, wie N. denkt und schreibt, nämlich oft genug angele-
senes Material umgestaltet.
Nennt N. die (sekundären) Urheber dieses Materials in GM selbst nicht
beim Namen, gibt es doch eine Reihe von Wegen, sie sich zu erschließen. Da
wäre zunächst N.s weitgehend erhaltene Privatbibliothek (vgl. NPB), die N. als
jemanden zeigt, der häufig mit dem Stift in der Hand liest und in seinen Bän-
den diverse Lesespuren hinterlässt. Sodann geben der Nachlass und auch die
Briefe N.s bereitwilliger als die Werke Auskunft über die tatsächlichen Lektü-
ren, wobei jedoch aus bloßen Erwähnungen noch nicht folgt, dass N. das ent-
sprechende Buch auch tatsächlich gelesen und fürs Eigene verwertet hat. So
erwähnt er im Brief an Malwida von Meysenbug vom 30. 07. 1887 (KSB 8/
KGB III 5 Nr. 884, S. 119, Z. 65-67) die Dissertation von Meta von Salis über
Agnes von Poitou. Kaiserin von Deutschland. Obwohl sie immerhin ein Nietz-