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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0059
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40 Zur Genealogie der Moral

zu müssen. Paradigmatisch ist hierfür Gilles Deleuze, der sein 1962 erstmals
erschienenes Buch Nietzsche et la philosophie mit einem Abschnitt über den
„Begriff der Genealogie" eröffnete (Deleuze 1991, 5-7). „Genealogie meint zu-
gleich den Wert der Herkunft und die Herkunft der Werte. Sie steht zum abso-
luten Charakter der Werte ebenso in Gegensatz wie zu deren relativem oder
nützlichem. Genealogie bezeichnet das differentielle Element der Werte, dem
ihr Wert selbst entspringt." (Ebd., 6) Insbesondere GM II 11 und die daraus
gewonnene Unterscheidung von Aktivität und Reaktivität erklärt Deleuze dann
zum Angelpunkt von ,N.s Philosophie' (kritisch dazu Brusotti 2001 und Blondel
2017, der gegen Deleuze meint: „La Genealogie n'est pas l'expose le plus repre-
sentatif et synthetique de la pensee de Nietzsche." „Die Genealogie ist nicht
der repräsentativste und synthetischste Abriss von N.s Denken." Blondel 2017,
378). Den von Deleuze initiierten Trend hat Michel Foucault mit seinem 1971
erstmals publizierten Aufsatz Nietzsche, la genealogie, l'histoire noch einmal
verstärkt, indem er Genealogie dort als eine Verfahrensweise versteht, die jedes
feste Fundament, jeden sicheren Ursprung destabilisiert und nur noch Hetero-
genität übrig lässt (Foucault 1971, vgl. zu GM und Foucault die beiden Mono-
graphien von Bernardy 2014 und Ward 2007, ferner z. B. Mahon 1992; Ebeling
2001; Reckermann 2003, 35-39; Fitzsimons 2007, 110-112; Sembou 2014 u. Bru-
sotti 2014a. Stevens 2003 argumentiert, Foucault und seine Nachfolger hätten
N.s Begriff der Genealogie in sein Gegenteil verkehrt und beriefen sich zu Un-
recht darauf. Höffe 2004a, 4 spricht ebenfalls von Genealogie als einer „radika-
leren Methode", in der freilich auch ein „Moment der Bescheidenheit" liege).
Erst mit Deleuze und Foucault sind die Vokabeln „genealogisch", „das Ge-
nealogische" und „Genealogie als Methode" in der Beschäftigung mit N. gas-
senläufig geworden. Erst seither entsteht der (nicht ganz adäquate) Eindruck,
N. spreche von sich selbst als „Genealoge" und wolle explizit „genealogisch"
agieren (Wotling 2017, 368 merkt an, dass N. den Begriff „Genealogie" kaum
brauche, die „idee" davon sich bei N. jedoch schon früh durchsetze). Wie Gab-
riel Valladäo Silva in einem Freiburger Vortrag 2019 herausgestellt hat, drückt
sich in der neuen Präferenz für das Genealogische bei N. eine Umkehr in der
N.-Forschung insgesamt aus, die sich von den scheinbar positiv-parametaphy-
sischen Hauptworten „Wille zur Macht", „Ewige Wiederkunft" und „Über-
mensch" emanzipiert hat und eine negativ-kritische Wende nahm. Wer von
„genealogischer Methode" spricht, suggeriert gerne, N. lasse sich für ein kri-
tisch-subversives Unternehmen in Anspruch nehmen, das an bestehenden
Machtverhältnisse rüttle. Man mag hinzufügen, dass sich die Forschung offen-
bar nicht zugleich von begrifflichen Schubladisierungszwängen losmachen
konnte und eben deshalb von N.s „genealogischer Methode" zu reden anfing
und plötzlich GM als (Haupt-)Werk die Ehre gab. Zugleich löst sich der beim
 
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