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Überblickskommentar 39

in der er auch auf seine Berliner Studentenzeit um die Jahrhundertwende zu-
rückblickte: „Ich erinnere mich, wie ich im Zimmer sitze und nach der Lektüre
der ,Genealogie der Moral' das Buch schließe, beiseitelege und mit einem Heft
bedecke, buchstäblich zitternd, fröstelnd, und wie /109/ ich aufstehe, außer
mir, im Zimmer auf und ab gehe und am Ofen stehe. Ich wußte nicht, was mir
geschah, was man mir hier antat. / Kannte ich Gott, trotz alledem? Gott, gegen
den es hier ging?" (Döblin 1986, 108 f.) Im Oktober 1924 gab Benito Mussolini
in einem Interview für die New York Times über seine einstige Nietzsche-Be-
geisterung als junger Mann Auskunft. „It seems that it was in this period that
Mussolini learned German and read both Beyond Good and Evil and Toward a
Genealogy of Morals" (Sznajder 2002, 247). Schon in einem Artikel über Nietz-
sche von 1908 zeigte sich der radikalisierte, aber nominell noch sozialistische
Publizist Mussolini fasziniert von der „blonden Bestie" und den archaischen
Kriegeraristokratien, die GM evoziert (vgl. Sznajder 2002, 247-250, ferner Uhlig
1941, 107 f.). Im Gegenzug konnte GM dann, in Ernst Barthels Pamphlet Nietz-
sche als Verführer von 1947, als empörendes Manifest der Widermoral erschei-
nen: „Nietzsche bedeutet, daß der darwinistische Immoralismus sich zum un-
erlösbaren, teuflischen und ewigen Prinzip aufstellte, daß er das Verbrechen
um des Verbrechens willen heiligte, daß er die Pole der sittlichen Welt umkehr-
te." (Barthel 1947, 116) Josef Hofmiller konnte 1932 GM noch wie selbstverständ-
lich unter die Schriften rechnen, die schon deutlich den Wahnsinn erkennen
ließen, musste aber immerhin zugeben: „Die 1888 entstandenen Bücher tragen
noch deutlicher das Gepräge der Krankheit als die ,Genealogie'" (Hofmiller
[1947], 65).
Nach dem Zweiten Weltkrieg lockerte sich bei manchen philosophischen
Interpreten, die nicht in den Bann der metaphysikgeschichtlichen N.-Deutung
Heideggers (vgl. hierzu Kaufmann 2018b) geraten waren, die Überzeugung, N.
habe mit Gedanken wie dem „Willen zur Macht", der „Ewigen Wiederkunft des
Gleichen" und dem „Übermenschen" dogmatische Setzungen im Stil der alten
Metaphysik im Sinne gehabt. In Ludwig Giesz' Buch Nietzsche. Existenzialismus
und Wille zur Macht konnte sich GM etwa als dienlich erweisen, um darzutun,
dass man von Nietzsches „Lehren" in Anführungszeichen sagen müsse, sie sei-
en „keine ,Petrefakte', sondern (mißverständliche) Versuche, das heraklitische
Werden irgendwie zu beschreiben'" (Giesz 1950, X). Giesz wehrte sich mit Jas-
pers tapfer dagegen, „Nietzsches ,versucherische' Setzungen als absolut ge-
meinte Satzungen mißzuverstehen" (ebd., X) und sprach von einer „epochisti-
sche[n] Grundhaltung" (ebd., XI) in N.s stets widersprüchlichem Sprechen.
Die große Konjunktur von GM begann dann in Frankreich, als man sich
von einem Bild N.s zu verabschieden begann, das ihn als traditionell lehrenden
Philosophen auf bestimmte parametaphysische Propositionen meinte festlegen
 
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