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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0073
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54 Zur Genealogie der Moral

Den Ausdruck „Entwicklungsgeschichte" benutzte N. nur selten (im Werk nur
in MA I 10, KSA 2, 30, 17 sowie in GM I Anmerkung, KSA 5, 289, 5 f.); häufiger -
vgl. GM I 1, KSA 5, 257, 5 f. - kommt „Entstehungsgeschichte" vor. In der von N.
gelesenen, fachwissenschaftlichen Literatur war „Entwick(e)lungsgeschichte"
hingegen geläufig und tauchte auch in Buchtiteln auf (so bei Fischer 1860,
Fischer 1875 u. Post 1884). Dass die Vorreden von GT bis GM es erlauben sollen,
eine „Entwicklungsgeschichte" von N.s Denken zu zeichnen, suggeriert eine
innere Notwendigkeit dieser Denkbewegung - trotz der Anführungszeichen,
die durchaus einer linearen, gar teleologischen Entwicklung gegenüber ironi-
sche Vorbehalte markieren können. Freilich muss man wissen, dass die Vorre-
den, von denen N. hier spricht, erst für die Neuausgaben (Titelauflagen) seiner
älteren Schriften in den Jahren 1886 und 1887 verfasst worden sind, d. h. eine
solche „Entwicklungsgeschichte" selbst retrospektiv schreiben, die für einen
unbefangenen Leser der Werke ab GT (1872) womöglich nicht auf der Hand
läge. Die Vorreden zu den alten Werken dienen der Leserlenkung. Auf GM Vor-
rede hielt N. jedenfalls große Stücke, wie aus seinem Brief an Köselitz vom
15. 09. 1887 hervorging: „daß Sie einen so guten Eindruck von den zwei ersten
Abhandlungen haben, macht mich glücklich. Nun kommt noch die dritte: in
etwas andrer Tonart, anderem Tempo (mehr ,Finale' und Rondo), und, viel-
leicht, noch verwegener concipirt. Das Stärkste aber ist die Vorrede': wenigs-
tens kommt darin das starke Problem, das mich beschäftigt, zum kürzesten
Ausdruck" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 911, S. 154, Z. 4-10).
GM Vorrede bedient durchaus Stereotypen der Genre-Erwartungen an eine
Vorrede: Das „Ich" erklärt seinen persönlichen Bezug zum Gegenstand, nennt
Bezugspunkte und Personen, mit denen es in Verbindung steht (mit Arthur
Schopenhauer sogar als „meinem grossen Lehrer" - GM Vorrede 5, KSA 5, 251,
32), aber verzichtet auf die genretypische Danksagungslitanei. Denn das „Ich"
definiert sich in Abgrenzung von allen anderen, nicht im Anschluss an sie. Der
im Untertitel markierte „Streitschrift"-Charakter tritt in der Vorrede deutlich
zutage, richtet sie sich doch gegen namhaft gemachte Gegner wie Paul Ree
und Schopenhauer. Auch hier wird die Methode nicht erläutert, sondern in die
Tat umgesetzt. Das aussparende, andeutende Sprechen - viele Gedankenstri-
che und dreifache Auslassungspunkte setzen das auch im Druckbild um - fin-
det trotzdem zu einem lockeren Gesprächston, einem Parlando.

1.
247, 3-5 Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das
hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht] JGB 32 hat herausge-
 
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