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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0095
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76 Zur Genealogie der Moral

Edelmuth für Andere thun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich
ist, was sie bewegen kann zu guten Thaten und Werken der Liebe, immer nur
die Erkenntniß des fremden Leidens, aus dem eigenen unmittelbar
verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergiebt sich, daß die reine
Liebe (ayanp, caritas) ihrer Natur nach Mitleid ist; das Leiden, welches sie
lindert, mag nun ein großes oder ein kleines, wohin jeder unbefriedigte
Wunsch gehört, seyn." (Schopenhauer 1873-1874, 2, 444) Vom „Unegoisti-
schen" spricht Schopenhauer selbst nie, wohingegen Paul Ree dem Menschen
gleich zu Beginn seines Werks „zwei Triebe" zuschreibt, „nämlich den egoisti-
schen und den unegoistischen Trieb" (Ree 1877, 1 = Ree 2004, 127, vgl. auch
Janaway 2008, 125, ferner Kail 2009) und das Wort überhaupt häufig benutzt,
vgl. NK 258, 29-259, 4 (Ree bezieht sich dabei auch auf John Lubbock, vgl.
Fornari 2009, 55). In N.s späten Werken häuft sich die Invektivik gegen den
moralischen Glauben an das Unegoistische, vgl. z. B. NK KSA 5, 155, 13-15; NK
KSA 6, 305, 14-18 u. NK KSA 6, 305, 23 f. Schopenhauer sieht die praktische
Quintessenz seiner Philosophie in der Willensverneinung (Die Welt als Wille
und Vorstellung I 4, § 68 - Schopenhauer 1873-1874, 2, 446-471, zahlreiche
Lesespuren N.s). Sie wird bei N. oft mit Lebensverneinung in eins gesetzt (vgl.
z. B. KSA 6, 372, 27-32). Zur Intertextualität dieser Stelle siehe auch Magnus/
Mileur/Stewart 1994, 383 f.
252, 14 zurückblickende] Im Druckmanuskript steht stattdessen: „nihilisti-
sche" (GSA 71/27,1, fol. 3r). Die Änderung wurde offensichtlich erst in den
Druckfahnen vorgenommen.
252, 17-22 ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, wel-
che selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symp-
tom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu ei-
nem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum — Nihilis-
mus?...] Im Druckmanuskript steht statt 252, 19-22 zunächst: „unheimlichste
Symptom einer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Um-
weg - zum Nihilismus? ... Zu einem neuen Buddhismus, einem Zukunfts-Bud-
dhismus?..." (GSA 71/27,1, fol. 3r). Die Änderung wurde offenbar erst in den
Druckfahnen vorgenommen. Zum Begriff des Nihilismus, der in N.s Werken
erst von JGB 10 an vorkommt, siehe NK KSA 5, 23, 8-12, zum Begriff der „Mit-
leids-Moral" vgl. NK 252, 30 f. Das Motiv, Mitleid mache das Leben vernei-
nungswürdig und münde in Nihilismus, kehrt beispielsweise in AC 7, KSA 6,
173, 22-25 und W II 3, 35, 12-24 (KGW IX 7, vgl. NL 1887/88, KSA 13, 11[361],
159) wieder. N. benutzt „Nihilismus" im Umfeld Schopenhauers erst im späten
Nachlass (NL 1887, KSA 12, 10[150], 539 f. = KGW IX 6, W II 2, 41-42, 45-46;
NL 1888, KSA 13, 12[1] (256), 206 = KGW IX 7, W II 4, 86, 12; NL 1888, KSA 13,
 
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