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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0115
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96 Zur Genealogie der Moral

Philosophen-Brauch ist, wesentlich unhistorisch; daran ist kein Zweifel.] Der
„historische Geist" (258, 23) wurde im Druckmanuskript korrigiert aus
„der ,historische Sinn"' (GSA 71/27,1, fol. 6r). Durch die Umstellung entsteht
ein Wortspiel mit den „guten Geistern" in 258, 21, zu denen der idiomatisch
gebildete Leser die schon im 19. Jahrhundert geläufige Redensart „von allen
guten Geistern verlassen" assoziiert. Tatsächlich sollen die in Frage stehenden
Moralhistoriker von dem für sie wichtigsten, eben dem „historischen Geist"
verlassen sein, den auch schon GT 23, KSA 1, 145, 16 (dort als „kritisch-histori-
schen Geist") sowie JGB 223 aufrufen, vgl. NK KSA 5, 157, 2-15. Der von N.s
Zeitgenossen häufig beschworene (vgl. die Nachweise in NK KSA 6, 208, 29-
209, 2) „historische Sinn" der ursprünglichen Fassung wiederum galt in UB II
HL als „Krankheit" (EH UB 1, 6, 316, 20 f., dazu Sommer 1997, 44-72), während
seine späteren Werke ihm durchaus eine positive Bedeutung abgewinnen, vgl.
NK KSA 5, 130, 28-34; NK KSA 5, 157, 28-158, 1 und NK KSA 6, 351, 5f.
Unmittelbar einschlägig für die Frage, an wen N. konkret dachte, als er in
GM I 2 von den „Historikern der Moral" sprach, ist eine Bemerkung gegenüber
Overbeck im Brief vom 24. 03. 1887: „Lecky habe ich selbst in Besitz: aber sol-
chen Engländern fehlt ,der historische Sinn' und auch noch einiges Andre.
Das Gleiche gilt von dem sehr gelesenen und übersetzten Amerikaner Draper."
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 820, S. 49, Z. 81-84) Neben den Werken von William Ed-
ward Hartpole Lecky, die Nietzsche entgegen seiner wegwerfenden Geste wie-
derholt intensiv rezipiert hat (namentlich die Geschichte des Ursprungs und Ein-
flusses der Aufklärung sowie die Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf
Karl den Grossen) ist also der in England gebürtige, später in die USA ausge-
wanderte Historiker und Naturwissenschaftler John William Draper (1811-1882)
in die Liste der für GM (auch in dezidierter Absetzung) relevanten Moralhistori-
ker einzutragen. Erhalten haben sich in N.s Bibliothek jeweils in deutscher
Übersetzung Drapers Geschichte der geistigen Entwickelung Europas von 1871
sowie seine Geschichte der Conflicte zwischen Religion und Wissenschaft von
1875 (beide Bände weisen Lesespuren auf). Offensichtlich haben sich diese Mo-
ralhistoriker jene Losung gegen den herkömmlichen philosophischen Glauben
an ewige Tatsachen und Begriffe noch nicht zu eigen gemacht, die MA ausge-
geben hatte, und die für GM noch leitend ist: „Alles aber ist geworden; es giebt
keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. —
Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig" (MA I 2,
KSA 2, 25, 12-15).
258, 29-259, 4 „Man hat ursprünglich — so dekretieren sie — unegoistische
Handlungen von Seiten Derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wur-
den, also denen sie nützlich waren; später hat man diesen Ursprung des Lobes
vergessen und die unegoistischen Handlungen einfach, weil sie gewöhn-
 
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