Stellenkommentar GM I 2, KSA 5, S. 258-259 97
heitsmässig immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden — wie als
ob sie an sich etwas Gutes wären."] Es handelt sich nicht um ein wörtliches
Zitat, sondern um eine Ree-Paraphrase (vgl. Thatcher 1989, 588 und Janaway
2006, 351, Anm. 8): „Dem Gesagten zu Folge ist das Gute (Unegoistische) we-
gen seines Nutzens, nämlich darum gelobt worden, weil es uns einem Zustan-
de grösserer Glückseligkeit näher bringt [cf. John Stuart Mill]. Jetzt aber loben
wir die Güte nicht wegen ihrer nützenden Folgen, vielmehr erscheint sie uns
an und für sich, unabhängig von allen Folgen, lobenswerth. Trotzdem kann sie
ursprünglich wegen ihres Nutzens gelobt worden sein, wenn man auch später,
nachdem man sich einmal daran gewöhnt hatte, sie zu loben, vergass, dass
dieses Lob sich anfangs auf den Nutzen der Gemeinschaft gründete." (Ree 1877,
17 = Ree 2004, 137) In MA I 39, KSA 2, 62, 20-29 wurde die Rees Moralherkunfts-
these noch vorgetragen, ohne kritische Bedenken zu äußern, und in MA II
WS 40, KSA 2, 570 f. (dazu Owen 2007, 75) zu einer Generalthese über das Ver-
gessen in der Moralgeschichte ausgebaut. Vgl. zum „Unegoistischen" bei Ree
NK 252, 4-9, zum Zusammenhang von sittlichem Urteil und Lob/Tadel auch
Schmidt 1882b, 2, 309 f.
259, 4-12 Man sieht sofort: diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen
Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie, — wir haben „die Nützlichkeit",
„das Vergessen", „die Gewohnheit" und am Schluss „den Irrthum", Alles als Un-
terlage einer Werthschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine
Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz soll gede-
müthigt, diese Werthschätzung entwerthet werden: ist das erreicht?...] Von „Irr-
thum" ist an der 258, 29-259, 4 zugrundeliegenden Ree-Stelle bezeichnender-
weise nicht die Rede, hingegen sehr wohl in der Adaption von MA I 39, KSA 2,
62, 26. Der „höhere Mensch" kommt in 259, 11 erstmals ins Spiel, dessen Selbst-
verständnis als „Vornehme[r]" und „Gute[r]" dann in 259, 16-23 ausführlicher
thematisiert wird. Die Breitseite gegen die „englischen Psychologen" nimmt
also etwas vorweg, was bis dahin noch gar nicht erläutert worden ist, dass
nämlich Gutsein zunächst als Selbstcharakterisierung einer aristokratischen
Elite gedient habe. Die „englischen Psychologen" (257, 4) führen dieses Gutsein
hingegen auf Gemeinnutzen, Vergessen, Gewohnheit (vgl. NK 257, 16) und/oder
Irrtum zurück, und zwar nicht, so unterstellt der Text, aus reinem wissen-
schaftlichen Erkenntnisinteresse, sondern in der Absicht, den bei den Vorneh-
men anzutreffenden Stolz auf das eigene Gutsein zu demütigen (und auch
ohne zu fragen, wem das angeblich Nützliche eigentlich und in welcher Hin-
sicht nütze, vgl. Jenkins 2004, 297). Englische Moralpsychologie wäre also mit-
nichten eine objektive Wissenschaft, sondern selbst Partei im Kampf der Mora-
len - und zwar näherhin im Kampf gegen die vornehme Moral.
heitsmässig immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden — wie als
ob sie an sich etwas Gutes wären."] Es handelt sich nicht um ein wörtliches
Zitat, sondern um eine Ree-Paraphrase (vgl. Thatcher 1989, 588 und Janaway
2006, 351, Anm. 8): „Dem Gesagten zu Folge ist das Gute (Unegoistische) we-
gen seines Nutzens, nämlich darum gelobt worden, weil es uns einem Zustan-
de grösserer Glückseligkeit näher bringt [cf. John Stuart Mill]. Jetzt aber loben
wir die Güte nicht wegen ihrer nützenden Folgen, vielmehr erscheint sie uns
an und für sich, unabhängig von allen Folgen, lobenswerth. Trotzdem kann sie
ursprünglich wegen ihres Nutzens gelobt worden sein, wenn man auch später,
nachdem man sich einmal daran gewöhnt hatte, sie zu loben, vergass, dass
dieses Lob sich anfangs auf den Nutzen der Gemeinschaft gründete." (Ree 1877,
17 = Ree 2004, 137) In MA I 39, KSA 2, 62, 20-29 wurde die Rees Moralherkunfts-
these noch vorgetragen, ohne kritische Bedenken zu äußern, und in MA II
WS 40, KSA 2, 570 f. (dazu Owen 2007, 75) zu einer Generalthese über das Ver-
gessen in der Moralgeschichte ausgebaut. Vgl. zum „Unegoistischen" bei Ree
NK 252, 4-9, zum Zusammenhang von sittlichem Urteil und Lob/Tadel auch
Schmidt 1882b, 2, 309 f.
259, 4-12 Man sieht sofort: diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen
Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie, — wir haben „die Nützlichkeit",
„das Vergessen", „die Gewohnheit" und am Schluss „den Irrthum", Alles als Un-
terlage einer Werthschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine
Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz soll gede-
müthigt, diese Werthschätzung entwerthet werden: ist das erreicht?...] Von „Irr-
thum" ist an der 258, 29-259, 4 zugrundeliegenden Ree-Stelle bezeichnender-
weise nicht die Rede, hingegen sehr wohl in der Adaption von MA I 39, KSA 2,
62, 26. Der „höhere Mensch" kommt in 259, 11 erstmals ins Spiel, dessen Selbst-
verständnis als „Vornehme[r]" und „Gute[r]" dann in 259, 16-23 ausführlicher
thematisiert wird. Die Breitseite gegen die „englischen Psychologen" nimmt
also etwas vorweg, was bis dahin noch gar nicht erläutert worden ist, dass
nämlich Gutsein zunächst als Selbstcharakterisierung einer aristokratischen
Elite gedient habe. Die „englischen Psychologen" (257, 4) führen dieses Gutsein
hingegen auf Gemeinnutzen, Vergessen, Gewohnheit (vgl. NK 257, 16) und/oder
Irrtum zurück, und zwar nicht, so unterstellt der Text, aus reinem wissen-
schaftlichen Erkenntnisinteresse, sondern in der Absicht, den bei den Vorneh-
men anzutreffenden Stolz auf das eigene Gutsein zu demütigen (und auch
ohne zu fragen, wem das angeblich Nützliche eigentlich und in welcher Hin-
sicht nütze, vgl. Jenkins 2004, 297). Englische Moralpsychologie wäre also mit-
nichten eine objektive Wissenschaft, sondern selbst Partei im Kampf der Mora-
len - und zwar näherhin im Kampf gegen die vornehme Moral.