98 Zur Genealogie der Moral
GM will die Idee einer desinteressierten, selbst nicht von Moral kontaminier-
ten Moralwissenschaft ad absurdum führen, indem gezeigt werden soll, wie par-
teiisch selbst und gerade objektivierende Herangehensweisen sind. Das Ziel ist
offensichtlich nicht, eine solche desinteressierte Moralwissenschaft zu konstitu-
ieren, sondern ebenso interessiert - nur diesmal parteiisch für die vornehme Sa-
che des „höheren Menschen" - im Modus der Polemik alternative Moralge-
schichten zu schreiben, die vielleicht nicht wahrer sind als beispielsweise die
utilitaristischen, aber anders - weil sie anderen, vornehmen Zwecken dienen. Ei-
nen emphatischen Begriff vom „höheren Menschen" hat N. bei der Lektüre von
Paul Bourgets Aufsatz über Ernest Renan finden können (Bourget 1883, 96 f.) -
allerdings hat N. den Begriff vorher schon verwendet. Vgl. NK 277, 16 f.
259, 16-20 Vielmehr sind es „die Guten" selber gewesen, das heisst die Vorneh-
men, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr
Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz
zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.] Den Befund,
dass nicht das Gros der Bevölkerung, sondern eine Elite bei der Begrifflichkeit
des Guten prägend gewesen sei, wird dann GM I 5 etymologisch zu beglaubi-
gen versuchen, u. a. auf Grundlage von Leopold Schmidts Werk Die Ethik der
alten Griechen (z. B. Schmidt 1882b, 1, 289-305 u. 323).
259, 20-23 Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das
Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen] In
der Ökonomie des späten 19. Jahrhunderts war eine Debatte darüber entbrannt,
wer oder was denn „Werthe zu schaffen" in der Lage sei. N. hat diese Debatte,
die sich auf die Hervorbringung ökonomischer Werte konzentrierte, bei seinen
Lektüren zur Kenntnis genommen, ihr jedoch eine charakteristische Wendung
gegeben, indem er die Werte abkoppelte vom Referenzrahmen der Ökonomie
und zu einem für sich stehenden Gegenstand der Gestaltung machte, vgl. aus-
führlich NK KSA 5, 144, 24-26. Die Werte hatten sich schon in der Philosophie
der Generation vor N. zu eigenständigen Entitäten ausgewachsen, die nicht
länger nur Attribute anderer Gegenstände sein sollten (vgl. Sommer 2016h, 32-
35). N. zog daraus die Konsequenz, sowohl den echten, gesetzgebenden Philo-
sophen werteschaffende Kraft zuzuschreiben - so z. B. in JGB 211, KSA 5, 144,
26 -, als auch, diese Wertschaffungskraft den (nicht näher spezifizierten) ar-
chaischen Eliten zuzuschreiben (ohne selbst vorzugeben, wie diese Werte ge-
nau beschaffen sein würden, vgl. z. B. Saar 2015). Nach Renan, wie ihn Bourget
1883, 98 zitiert, gilt: „Toute civilisation est l'ceuvre des aristocrates" („Alle Kul-
tur ist das Werk von Vornehmen"). Dies wird in JGB 257, KSA 5, 205, 4 f. variiert.
Die Wendung „Pathos der Distanz" (259, 21) taucht in den Werken N.s
erstmals in JGB 257 auf (vgl. NK KSA 5, 205, 9-20). Sie wird auch im Nachlass,
namentlich in NL 1885/86, KSA 12, l[10], 13 (KGW IX 2, N VII 2, 166) und
GM will die Idee einer desinteressierten, selbst nicht von Moral kontaminier-
ten Moralwissenschaft ad absurdum führen, indem gezeigt werden soll, wie par-
teiisch selbst und gerade objektivierende Herangehensweisen sind. Das Ziel ist
offensichtlich nicht, eine solche desinteressierte Moralwissenschaft zu konstitu-
ieren, sondern ebenso interessiert - nur diesmal parteiisch für die vornehme Sa-
che des „höheren Menschen" - im Modus der Polemik alternative Moralge-
schichten zu schreiben, die vielleicht nicht wahrer sind als beispielsweise die
utilitaristischen, aber anders - weil sie anderen, vornehmen Zwecken dienen. Ei-
nen emphatischen Begriff vom „höheren Menschen" hat N. bei der Lektüre von
Paul Bourgets Aufsatz über Ernest Renan finden können (Bourget 1883, 96 f.) -
allerdings hat N. den Begriff vorher schon verwendet. Vgl. NK 277, 16 f.
259, 16-20 Vielmehr sind es „die Guten" selber gewesen, das heisst die Vorneh-
men, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr
Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz
zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.] Den Befund,
dass nicht das Gros der Bevölkerung, sondern eine Elite bei der Begrifflichkeit
des Guten prägend gewesen sei, wird dann GM I 5 etymologisch zu beglaubi-
gen versuchen, u. a. auf Grundlage von Leopold Schmidts Werk Die Ethik der
alten Griechen (z. B. Schmidt 1882b, 1, 289-305 u. 323).
259, 20-23 Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das
Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen] In
der Ökonomie des späten 19. Jahrhunderts war eine Debatte darüber entbrannt,
wer oder was denn „Werthe zu schaffen" in der Lage sei. N. hat diese Debatte,
die sich auf die Hervorbringung ökonomischer Werte konzentrierte, bei seinen
Lektüren zur Kenntnis genommen, ihr jedoch eine charakteristische Wendung
gegeben, indem er die Werte abkoppelte vom Referenzrahmen der Ökonomie
und zu einem für sich stehenden Gegenstand der Gestaltung machte, vgl. aus-
führlich NK KSA 5, 144, 24-26. Die Werte hatten sich schon in der Philosophie
der Generation vor N. zu eigenständigen Entitäten ausgewachsen, die nicht
länger nur Attribute anderer Gegenstände sein sollten (vgl. Sommer 2016h, 32-
35). N. zog daraus die Konsequenz, sowohl den echten, gesetzgebenden Philo-
sophen werteschaffende Kraft zuzuschreiben - so z. B. in JGB 211, KSA 5, 144,
26 -, als auch, diese Wertschaffungskraft den (nicht näher spezifizierten) ar-
chaischen Eliten zuzuschreiben (ohne selbst vorzugeben, wie diese Werte ge-
nau beschaffen sein würden, vgl. z. B. Saar 2015). Nach Renan, wie ihn Bourget
1883, 98 zitiert, gilt: „Toute civilisation est l'ceuvre des aristocrates" („Alle Kul-
tur ist das Werk von Vornehmen"). Dies wird in JGB 257, KSA 5, 205, 4 f. variiert.
Die Wendung „Pathos der Distanz" (259, 21) taucht in den Werken N.s
erstmals in JGB 257 auf (vgl. NK KSA 5, 205, 9-20). Sie wird auch im Nachlass,
namentlich in NL 1885/86, KSA 12, l[10], 13 (KGW IX 2, N VII 2, 166) und