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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0118
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Stellenkommentar GM I 2, KSA 5, S. 259-260 99

NL 1885/86, KSA 12, 1[7], 12 (KGW IX 2, N VII 2, 165), als soziales Unterschei-
dungsempfinden hervorgehoben. Nach JGB 257 erwächst Pathos der Distanz
„aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Aus-
blick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge
und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder-
und Fernhalten" (KSA 5, 205, 9-13). Während in JGB 257 und GM I 2 eine quasi
sozialhistorische Perspektivierung vorherrscht, die schließlich auf das „Pathos
der Vornehmheit und Distanz" die Entstehung des Gegensatzes von „gut" und
„böse" zurückführt (259, 30-34), ist bei der einzigen weiteren Erwähnung in
GM eine normative Note unüberhörbar: „das Höhere soll sich nicht zum Werk-
zeug des Niedrigeren herabwürdigen, das Pathos der Distanz soll in alle Ewig-
keit auch die Aufgaben aus einander halten!" (GM III 14, KSA 5, 371, 15-18)
Dieser programmatisch-normative Formelgebrauch akzentuiert sich in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 37 und in AC 43, vgl. NK KSA 6, 138, 20 f.;
zum Gefühlscharakter des „Pathos der Distanz" siehe Brock 2015, 189.
259, 30-34 Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde
und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im
Verhältniss zu einer niederen Art, zu einem „Unten" — das ist der Ursprung des
Gegensatzes „gut" und „schlecht"] Vgl. NK 259, 20-23.
260, 1-5 (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlau-
ben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschen-
den zu fassen: sie sagen „das ist das und das", sie siegeln jegliches Ding und
Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.)]
Nach 1. Mose 1, 26 u. 28 soll der Mensch über die Erde und alle Geschöpfe
herrschen und sie sich untertan machen; nach 1. Mose 2, 19 f. soll der Mensch
die Geschöpfe benennen. Sein Herrschaftsrecht ist nach der biblischen Schöp-
fungsgeschichte offensichtlich wesentlich das „Herrenrecht, Namen zu geben"
(an diesem biblisch verbrieften menschlichen Herrenrecht ändert auch die Auf-
fassung eines reaktionären Katholiken wie Joseph Marie, Comte de Maistre
nichts: „Ce qui veut dire, au fond, que Dieu seul a droit de donner un nom."
„Das will sagen, dass, im Grunde, Gott allein das Recht hat, einen Namen zu
geben." Maistre 1838, 260). Nach Platon: Kratylos 388d-389a ist es der ur-
sprüngliche Gesetzgeber, der die Namen der Dinge bestimmt hat.
Schon in Überlegungen aus der Basler Zeit hat N. „Gesetzgebung" und
„Namengeben" assoziiert und in platonischer Tradition der Philosophie als
Aufgabe zugemessen (NL 1872/73, KSA 7, 19[83], 447 f., vgl. PHG 3, KSA 1, 816,
29-34) - ein Anspruch an die Philosophie, der in JGB 211 ausdrücklich wieder-
holt wird (vgl. NK KSA 5, 145, 7-14; zum Zusammenhang dieser Stellen Lopes
2012, 136 f.). Sich den Philosophen als namen- und gesetzgebenden Herrn und
Erben uralter Herrenrechte vorzustellen, scheint N. in Zeiten nahezu völliger
 
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