104 Zur Genealogie der Moral
verallgemeinerte These konnte N. in Leopold Schmidts Ethik der alten Griechen
vorformuliert finden, wo er sich etwa folgende Stelle am Rand markierte: „Die
Uebertragung von Worten, welche ursprünglich die vornehme Geburt bezeich-
nen, auf die moralische Tüchtigkeit findet sich wohl bei allen Völkern; bei den
Griechen, bei denen die dabei zu Grunde liegende Anschauung lange Jahrhun-
derte hindurch mächtig wirkte [...], ist sie besonders begreiflich." (Schmidt
1882b, 1, 323, vgl. ebd., 159 f., 235 u. 289 f. und Brusotti 1992b, 127) Auch Paul
Ree argumentiert in seiner Entstehung des Gewissens ähnlich: „Mit dieser, so
zu sagen, moralischen Klassifikation der Menschen in Vornehme und Geringe,
Mächtige und Schwache stimmt es überein, dass die älteste Bedeutung des
Wortes ,gut‘ vornehm, mächtig, reich, diejenige des Wortes ,schlecht' gering,
schwach, arm ist." (Ree 1885, 23 = Ree 2004, 225, dazu die Erläuterung von
Treiber ebd., 553 f.) Zu N.s Schmidt-Rezeption im Blick auf das moralische Vo-
kabular siehe Orsucci 1996, 250 f., zur Interpretation von GM I 4 Geuss 2011,
13 f.; eine Parallelstelle bietet NK KSA 5, 209, 9-11.
262, 10-17 Welchen Unfug aber dieses Vorurtheil, einmal bis zum Hass entzü-
gelt, in Sonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte
Fall Buckle's; der Plebejismus des modernen Geistes, der englischer Abkunft
ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein
schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredt-
samkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben.] Vgl. NK KSA 6, 145, 32 f.,
zur Vulkan-Metapher, für die N. eine Vorliebe hegte, z. B. NK KSA 6, 393, 1 -
immerhin diente sie N. im Brief an Rohde vom 05. 05. 1873 zur positiven Selbst-
beschreibung: „Gersdorff hat Recht, wenn er schreibt, Basel sei vulcanisch ge-
worden. Auch ich habe wieder etwas Lava gespieen: eine Schrift gegen David
Strauss ist ziemlich fertig" (KSB 4/KGB II 3, Nr. 307, S. 149, Z. 11-14), während
sie in GM I 4 zur Denunziation benutzt wird. Dieser Passus über den englischen
Historiker Henry Thomas Buckle (1821-1862) spiegelt einen Eindruck wider,
den N. in Chur aus Buckles umfangreicher, aber auch unförmiger History of
Civilization in England in der Übersetzung von Arnold Ruge (Geschichte der
Civilisation in England, 1870) gewinnen konnte, die N. (laut Brief der Kantons-
bibliothek Graubünden vom 31. 07. 2002) am 20. 05. 1887 entliehen hat: „es er-
gab sich, daß B(uckle) einer meiner stärksten Antagonisten ist. Übrigens ist es
kaum glaublich, wie sehr E. Dühring sich von den plumpen Werthurtheilen
dieses Demokraten in historischen Dingen abhängig gemacht hat" (N. an Hein-
rich Köselitz, 20. 05. 1887, KSB 8/KGB III 5, Nr. 851, S. 79, Z. 52-55, vgl. auch
KGW IX 9, W II 7, 134, 2-20 = NL 1888, KSA 13, 16[39], 497 f.). 1881 war die
Lektüre von Buckles Essays (Buckle 1867) vorangegangen, die sich als einziger
Buckle-Titel auch unter N.s Büchern erhalten hat; bereits früher hat sich N.,
wie seine Lesepuren belegen, mit Buckles zivilisationsgeschichtlichem Modell
verallgemeinerte These konnte N. in Leopold Schmidts Ethik der alten Griechen
vorformuliert finden, wo er sich etwa folgende Stelle am Rand markierte: „Die
Uebertragung von Worten, welche ursprünglich die vornehme Geburt bezeich-
nen, auf die moralische Tüchtigkeit findet sich wohl bei allen Völkern; bei den
Griechen, bei denen die dabei zu Grunde liegende Anschauung lange Jahrhun-
derte hindurch mächtig wirkte [...], ist sie besonders begreiflich." (Schmidt
1882b, 1, 323, vgl. ebd., 159 f., 235 u. 289 f. und Brusotti 1992b, 127) Auch Paul
Ree argumentiert in seiner Entstehung des Gewissens ähnlich: „Mit dieser, so
zu sagen, moralischen Klassifikation der Menschen in Vornehme und Geringe,
Mächtige und Schwache stimmt es überein, dass die älteste Bedeutung des
Wortes ,gut‘ vornehm, mächtig, reich, diejenige des Wortes ,schlecht' gering,
schwach, arm ist." (Ree 1885, 23 = Ree 2004, 225, dazu die Erläuterung von
Treiber ebd., 553 f.) Zu N.s Schmidt-Rezeption im Blick auf das moralische Vo-
kabular siehe Orsucci 1996, 250 f., zur Interpretation von GM I 4 Geuss 2011,
13 f.; eine Parallelstelle bietet NK KSA 5, 209, 9-11.
262, 10-17 Welchen Unfug aber dieses Vorurtheil, einmal bis zum Hass entzü-
gelt, in Sonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte
Fall Buckle's; der Plebejismus des modernen Geistes, der englischer Abkunft
ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein
schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredt-
samkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben.] Vgl. NK KSA 6, 145, 32 f.,
zur Vulkan-Metapher, für die N. eine Vorliebe hegte, z. B. NK KSA 6, 393, 1 -
immerhin diente sie N. im Brief an Rohde vom 05. 05. 1873 zur positiven Selbst-
beschreibung: „Gersdorff hat Recht, wenn er schreibt, Basel sei vulcanisch ge-
worden. Auch ich habe wieder etwas Lava gespieen: eine Schrift gegen David
Strauss ist ziemlich fertig" (KSB 4/KGB II 3, Nr. 307, S. 149, Z. 11-14), während
sie in GM I 4 zur Denunziation benutzt wird. Dieser Passus über den englischen
Historiker Henry Thomas Buckle (1821-1862) spiegelt einen Eindruck wider,
den N. in Chur aus Buckles umfangreicher, aber auch unförmiger History of
Civilization in England in der Übersetzung von Arnold Ruge (Geschichte der
Civilisation in England, 1870) gewinnen konnte, die N. (laut Brief der Kantons-
bibliothek Graubünden vom 31. 07. 2002) am 20. 05. 1887 entliehen hat: „es er-
gab sich, daß B(uckle) einer meiner stärksten Antagonisten ist. Übrigens ist es
kaum glaublich, wie sehr E. Dühring sich von den plumpen Werthurtheilen
dieses Demokraten in historischen Dingen abhängig gemacht hat" (N. an Hein-
rich Köselitz, 20. 05. 1887, KSB 8/KGB III 5, Nr. 851, S. 79, Z. 52-55, vgl. auch
KGW IX 9, W II 7, 134, 2-20 = NL 1888, KSA 13, 16[39], 497 f.). 1881 war die
Lektüre von Buckles Essays (Buckle 1867) vorangegangen, die sich als einziger
Buckle-Titel auch unter N.s Büchern erhalten hat; bereits früher hat sich N.,
wie seine Lesepuren belegen, mit Buckles zivilisationsgeschichtlichem Modell