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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0150
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Stellenkommentar GM I 7, KSA 5, S. 266 131

sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über
sonstiges Gethier!...] Das Prädikat der Gefährlichkeit ist nicht frei von Ambiva-
lenz, denn es ist zweistellig - etwas wird für jemanden gefährlich. Wenn unter
dem Regiment der „Priester" „Alles gefährlicher" (Komparativ - also im Ver-
gleich wozu?) werden kann, gilt dann diese Gefahr auch für diese „Priester"
selbst - siehe 265, 11 -, weil sie mit ihren asketischen Praktiken ihr eigenes
Leben gefährden, oder doch nur für alle anderen, die vom priesterlichen Welt-
vernichtungswillen angesteckt werden? (Vgl. NK ÜK GM I 6.) Was bei den Pries-
tern jedenfalls aufzutreten pflegt, ist eine Richtungsänderung der Triebenergi-
en nach innen - sie beschäftigen sich vorzüglich mit sich selbst -, so dass die
Schlussfolgerung naheliegt, erst so habe der an sich oberflächliche Mensch ein
Innenleben bekommen. Tiefe und Böse-Sein sind die beiden Epitheta dieses
(für wen? den Moralgenealogen?) „interessanten Thieres", die in GM I 8,
KSA 5, 268, 26 f. historisch konkret am unterdrückten und moralumwerteri-
schen Judentum festgemacht werden. Nach GM I 11, KSA 5, 274 (vgl. GM I 16,
KSA 5, 285) ist das Begriffspaar gut/böse gerade dasjenige, mit dem die skla-
venmoralische Umwertung das alte, vornehme Begriffspaar gut/schlecht inver-
tiert. In GM I 6 und GM I 8 wird „böse" hingegen als scheinbar objektives
Attribut verwendet - im Sinne von Bosheit, von Verschlagenheit? Schacht
1994a, 435 f. interpretiert 266, 5-15 als Auftakt zu einer im Folgenden von GM I
erzählten Geschichte, wie es zu dieser Vertiefung und ,Verbösung' des Men-
schen hat kommen können, die - stellt man GM I 8 in Rechnung, historisch
verhältnismäßig rezent zu sein scheinen - nämlich eine Entwicklung der letz-
ten zweieinhalb Jahrtausende darstellen. Bosheit und Tiefe verleihen diesem
Menschen aber ganz offensichtlich einen evolutionären Vorteil, „Überlegen-
heit" (266, 14 f.), so dass die Strategie der Priester trotz ihres Vernichtungswil-
lens langfristig einen (positiven?) Lebensverlängerungs-, aber auch Lebensin-
tensivierungseffekt zeitigen könnte. Kiesel 2015 will die in GM I 6 vorgetragene
These von der Vertiefung der menschlichen Seele anhand von Homer, Platon
und Augustinus ideengeschichtlich erhärten.
Der Unterscheidung von „gut" und „böse" ist N. im stoischen Kontext wie-
derbegegnet, nämlich in Simplikios' Epiktet-Kommentar (Simplikios 1867, 152-
160, viele Lesespuren N.s). Überhaupt findet N. in Simplikios/Epiktet gemäß
seinem Brief an Overbeck vom 9. 01. 1887 (KSB 8/KGB III 5, Nr. 790, S. 9) die
ganze christliche Wertungsweise vorweggenommen (zu N.s Simplikios-Rezepti-
on vgl. Allison 2001, 185 f.).
7.
Der Abschnitt, der auf eine angeblich vom Judentum in die Wege geleitete und
vom Christentum realisierte sklavenmoralische Umwertung hinausläuft, die bis
 
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