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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0166
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Stellenkommentar GM I 10, KSA 5, S. 270 147

Interpreten für einen Schlüssel in N.s Moralanalyse zu halten pflegen, obwohl
er in N.s Werken erst hier auftaucht und definitorisch unterbestimmt bleibt
(was vermutlich den Ehrgeiz der Interpreten besonders herausfordert). Die Ein-
gangsthese besagt, dass am Anfang des „Sklavenaufstands in der Moral" (270,
25) ein „Ressentiment" der sozial Zurückgesetzten stehe, denen die Macht zu
unmittelbarer Reaktion auf Beeinträchtigungen von außen fehlt - die Antago-
nisten sind eben stärker. Diese Machtlosigkeit bringt das Ressentiment als dau-
erhafteren Gemütszustand hervor; auch bei den Vornehmen sei zwar, wird spä-
ter gesagt (273, 12-15), Ressentiment möglich, aber es ist flüchtig, weil es sich
sofort abreagiert. Bei den Zurückgesetzten stabilisiert sich das Ressentiment
als Habitus, weil die erwünschte Rache nicht ausgeübt, sondern nur imaginiert
werden kann, und produziert als solches Werte - Werte der Reaktivität. „[V]or-
nehme Moral" (270, 29) gründet der Exposition zufolge in Affirmation, wäh-
rend „Sklaven-Moral" (270, 31) in der Verneinung der und des Anderen, zumal
der Selbstbejaher seinen Modus findet (vgl. auch MA I 45 und oben NK 251, 8-
11 sowie JGB 260 und NK 5/1, S. 745-755). Gerade „dies Nein ist ihre schöpferi-
sche That". Schöpferisch ist diese Moral in der Hervorbringung von Werten
der Fremdverneinung, die durch äußeren Anstoss entstehen, denn diese Moral
bedürfe „äusserer Reize, um überhaupt zu agiren" (271, 6). So ist sie rein reak-
tiv, während die vornehme Moral mit spontaner Aktion und Selbstbejahung
assoziiert wird. Im Folgenden wird mit beträchtlichem philologischem Auf-
wand - hauptsächlich in Anlehnung an Leopold Schmidts Die Ethik der alten
Griechen (vgl. Brusotti 1992b, 127-135 sowie N.s erstes Schmidt-Exzerpt NL 1883,
KSA 10, 7[22], 245-248) - versucht, die These etymologisch zu plausibilisieren,
dass die vornehmen Griechen dem niedrigen Volk mit bedauernder Verachtung
und viel Desinteresse gegenübergestanden hätten, also keineswegs so, dass sie
sich in Abgrenzung von ihm oder gar im Hass hätten selbst profilieren müssen.
In der Abgrenzung von den Vornehmen finden die Ressentiment-Menschen ih-
ren Lebenssinn; sie kultivieren zudem - als Mittel zur Macht - die Klugheit, die
den Vornehmen zweitrangig und vernachlässigenswert erschienen war. Diese
Vornehmen wiederum seien (wohl aus einer Kombination von Ehrfurcht,
Selbstbezüglichkeit und Vergesslichkeit heraus) sogar imstande, ihre Feinde
zu lieben - eine Tugend, die ja eigentlich das sklavenmoralische Christentum
für sich gepachtet zu haben glaubt, während der Ressentiment-Mensch tat-
sächlich, so schließt GM I 10, den Feind als „bösen Feind" (274, 2) im Wortsinn
verteufelt.
270, 25-271, 1 Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Res-
sentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment sol-
cher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur
durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus
 
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