146 Zur Genealogie der Moral
270, 17 f. Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe?
Die Kirche widersteht uns, nicht ihr Gift...] Zum Begriff des Freigeistes, den N.
mitunter scharf vom „freien Geist" unterscheidet, um letzteren für sich und die
Zukunft in Anspruch zu nehmen, ersteren - wie die „Freidenker" - hingegen
unter den Verdacht zu stellen, die Vergangenheit, nämlich die Verfallenheit
an demokratisch-pöbelhafte Moralpräferenzen zu repräsentieren, siehe z. B.
NK 5/1, S. 307-310 (ferner oben NK 265, 8-14). In JGB 105, KSA 5, 92, 2-6 wird
allerdings der „freie Geist" (und nicht der dort gar nicht auftauchende „Frei-
geist") in Verdacht der „Unfreiheit" gebracht, und zwar im Blick auf seinen
„tiefe[n] Unverstand gegen die Kirche". Der „Freigeist" in GM I 10 fragt, ob die
einst für die Verpöbelung verantwortliche Kirche mittlerweile nicht zu deren
Hemmschuh geworden sei (270, 9-11), wohl weil sie gerade in katholischer
Gestalt eine starr hierarchische Institution ist, die sich vehement gegen die
Moderne und ihre Demokratisierungsbestrebungen wendet. (Beim Verständnis
der Kirche als Modernisierungshemmnis handelt es sich um eine ironische Va-
riante der biblischen Gedankenfigur vom Katechon, vom Aufhalter des Anti-
christ und des Weltendes nach 2. Thessalonicher 2, 6 f.) Es sind Geschmacks-
vorbehalte, die der „Freigeist" gegenüber der Kirche ins Treffen führt, die zu
grob und plebejisch sei und eben jene Verführungskraft nicht mehr besitze, die
GM I 8 dem frühen Christentum zuschreibt: Sie „entfremdet" (270, 15) nur
noch: „Die Kirche widersteht uns, nicht ihr Gift... Von der Kirche abgesehn
lieben auch wir das Gift..." (270, 17 f.) Dem Gift, das die „Intoxikation" (269, 32)
der Menschheit herbeigeführt hat, nämlich „die Moral des gemeinen Mannes"
(269, 28 f.), sind die „Freigeister" bereits bereitwillig verfallen - sie sind ja „De-
mokraten" (270, 21), wie das gleich das Wort wieder ergreifende „Ich" heraus-
stellt.
In Raoul Frarys Handbuch des Demagogen hat N. eine Passage markiert,
wonach „die Freigeisterei [...] wohl ihre Fanatiker" habe, „deren Fanatismus
jedoch sehr viel eher auf ein ihnen innewohnendes Gefühl von Groll, als auf
ihre religiöse Ueberzeugung zurückzuführen" sei: „Die Abneigung, welche vie-
le Franzosen gegen den Glauben ihrer Väter empfinden, ist eine mächtige Lei-
denschaft" (Frary 1884, 181, N.s Anstreichungen, mit Randstrichen markiert).
Dabei sind es wesentlich Geschmackspräfererenzen und Ranküne gegen das
Hergebrachte, weniger der vermeintliche Anteil der Kirche an der allgemeinen
Verpöbelung und Demokratisierung, die die Freigeister gegen sie aufbringen.
10.
Der Abschnitt GM I 10 hat Berühmtheit erlangt, weil in ihm der Zusammenhang
von Sklavenmoral und „Ressentiment" exponiert wird - einem Begriff, den die
270, 17 f. Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe?
Die Kirche widersteht uns, nicht ihr Gift...] Zum Begriff des Freigeistes, den N.
mitunter scharf vom „freien Geist" unterscheidet, um letzteren für sich und die
Zukunft in Anspruch zu nehmen, ersteren - wie die „Freidenker" - hingegen
unter den Verdacht zu stellen, die Vergangenheit, nämlich die Verfallenheit
an demokratisch-pöbelhafte Moralpräferenzen zu repräsentieren, siehe z. B.
NK 5/1, S. 307-310 (ferner oben NK 265, 8-14). In JGB 105, KSA 5, 92, 2-6 wird
allerdings der „freie Geist" (und nicht der dort gar nicht auftauchende „Frei-
geist") in Verdacht der „Unfreiheit" gebracht, und zwar im Blick auf seinen
„tiefe[n] Unverstand gegen die Kirche". Der „Freigeist" in GM I 10 fragt, ob die
einst für die Verpöbelung verantwortliche Kirche mittlerweile nicht zu deren
Hemmschuh geworden sei (270, 9-11), wohl weil sie gerade in katholischer
Gestalt eine starr hierarchische Institution ist, die sich vehement gegen die
Moderne und ihre Demokratisierungsbestrebungen wendet. (Beim Verständnis
der Kirche als Modernisierungshemmnis handelt es sich um eine ironische Va-
riante der biblischen Gedankenfigur vom Katechon, vom Aufhalter des Anti-
christ und des Weltendes nach 2. Thessalonicher 2, 6 f.) Es sind Geschmacks-
vorbehalte, die der „Freigeist" gegenüber der Kirche ins Treffen führt, die zu
grob und plebejisch sei und eben jene Verführungskraft nicht mehr besitze, die
GM I 8 dem frühen Christentum zuschreibt: Sie „entfremdet" (270, 15) nur
noch: „Die Kirche widersteht uns, nicht ihr Gift... Von der Kirche abgesehn
lieben auch wir das Gift..." (270, 17 f.) Dem Gift, das die „Intoxikation" (269, 32)
der Menschheit herbeigeführt hat, nämlich „die Moral des gemeinen Mannes"
(269, 28 f.), sind die „Freigeister" bereits bereitwillig verfallen - sie sind ja „De-
mokraten" (270, 21), wie das gleich das Wort wieder ergreifende „Ich" heraus-
stellt.
In Raoul Frarys Handbuch des Demagogen hat N. eine Passage markiert,
wonach „die Freigeisterei [...] wohl ihre Fanatiker" habe, „deren Fanatismus
jedoch sehr viel eher auf ein ihnen innewohnendes Gefühl von Groll, als auf
ihre religiöse Ueberzeugung zurückzuführen" sei: „Die Abneigung, welche vie-
le Franzosen gegen den Glauben ihrer Väter empfinden, ist eine mächtige Lei-
denschaft" (Frary 1884, 181, N.s Anstreichungen, mit Randstrichen markiert).
Dabei sind es wesentlich Geschmackspräfererenzen und Ranküne gegen das
Hergebrachte, weniger der vermeintliche Anteil der Kirche an der allgemeinen
Verpöbelung und Demokratisierung, die die Freigeister gegen sie aufbringen.
10.
Der Abschnitt GM I 10 hat Berühmtheit erlangt, weil in ihm der Zusammenhang
von Sklavenmoral und „Ressentiment" exponiert wird - einem Begriff, den die