Stellenkommentar GM I 9, KSA 5, S. 269-270 145
312 vor der entscheidenden Schlacht an der Milvischen Brücke gegen Maxenti-
us eine himmlische Vision des Kreuzes (oder des Christogramms) mit der Pro-
phezeiung in hoc signo vinces („in diesem Zeichen wirst du siegen") erschienen
sein. Auf die sprichwörtlich gewordene Formel spielt N. auch in M 96 und in
AC 51 an, vgl. NK KSA 3, 87, 7 und NK KSA 6, 232, 15-20, ferner Hödl 2009, 530.
9.
Hat GM I 8 die fingierten Leser angesprochen, kommt in GM I 9 in direkter
Rede und mit Anführungszeichen ein solcher Leser selbst zu Wort, der als
„Freigeist[.]" (270, 19 - nicht „freier Geist"!) und als „Demokrat[.]" (270, 21)
ausgewiesen wird, also ersichtlich nicht die Präferenzen des in der Ersten Ab-
handlung sprechenden „Ich" teilt. Zum einen gebe es, so dieser „Freigeist", gar
keinen Grund, sich über die allgemeine Nivellierung, den Sieg der Pöbelmoral
aufzuregen, vielmehr solle man sich ins Unvermeidliche schicken. Immerhin
benutzt auch der „Freigeist" dafür Metaphern der „Vergiftung" (270, 3 f.), der
„Blutvergiftung" in einem an die zeitgenössischen rassenbiologischen Ideen
anknüpfenden Sinn (269, 30 f.), gibt aber am Ende seines Monologs mit Blick
auf die Kirche zu bedenken, dass „wir" „das Gift" liebten (270, 18). Zudem sei
die Kirche, die doch eigentlich der Schrittmacher dieser Verpöbelung gewesen
sei, mittlerweile eine Art altertümlicher, die Entwicklung eher aufhaltender
Fremdkörper, die nicht mehr zu verführen verstünde. Nach diesem „Epilog ei-
nes ,Freigeistes'" zur „Rede" (270, 19) des sprechenden „Ich" ergreift dieses
selbst wieder das Wort, jedoch nur, um zu sagen, dass der „Freigeist" ihm „bis
dahin zugehört" und es nicht ausgehalten habe, es „schweigen zu hören. Für
mich nämlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen." (270, 21-23) Aber
genau dies tut das „Ich" nicht; es redet, indem es über das Schweigen redet -
und lässt andere, einen imaginierten „Freigeist" - den Marc Sautet in Nietz-
sche 1990, 253 f. mit Jean-Marie Guyau als Verfasser von L'irreligion de l'avenir
glaubt identifizieren zu können - an seiner Statt reden.
270, 2 f. Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was
liegt an Worten!)] „Verjüdelt" ist ein Begriff aus dem antisemitischen Vokabular
der Zeit (vgl. z. B. Bauer 1863, 8, 25 u. 49; Dühring 1881, 9, 82 u. 85 f.; ausführ-
lich dazu Gemes 2019), den N. an den beiden Stellen, wo er ihn in einem Werk
braucht - neben GM I 9 noch FW 135, KSA 3, 486, 13 - umprägt, indem er es
dazu benutzt, das Christentum zu diskreditieren, vgl. Schank 2000, 76. Freilich
funktioniert diese Umprägung nur, weil der Ausdruck auch im antichristlichen
Kontext von der zeitgenössischen, negativen Konnotation zehrt.
270, 9 Quaeritur.] Lateinisch: „Es wird gefragt"; „die Frage stellt sich."
312 vor der entscheidenden Schlacht an der Milvischen Brücke gegen Maxenti-
us eine himmlische Vision des Kreuzes (oder des Christogramms) mit der Pro-
phezeiung in hoc signo vinces („in diesem Zeichen wirst du siegen") erschienen
sein. Auf die sprichwörtlich gewordene Formel spielt N. auch in M 96 und in
AC 51 an, vgl. NK KSA 3, 87, 7 und NK KSA 6, 232, 15-20, ferner Hödl 2009, 530.
9.
Hat GM I 8 die fingierten Leser angesprochen, kommt in GM I 9 in direkter
Rede und mit Anführungszeichen ein solcher Leser selbst zu Wort, der als
„Freigeist[.]" (270, 19 - nicht „freier Geist"!) und als „Demokrat[.]" (270, 21)
ausgewiesen wird, also ersichtlich nicht die Präferenzen des in der Ersten Ab-
handlung sprechenden „Ich" teilt. Zum einen gebe es, so dieser „Freigeist", gar
keinen Grund, sich über die allgemeine Nivellierung, den Sieg der Pöbelmoral
aufzuregen, vielmehr solle man sich ins Unvermeidliche schicken. Immerhin
benutzt auch der „Freigeist" dafür Metaphern der „Vergiftung" (270, 3 f.), der
„Blutvergiftung" in einem an die zeitgenössischen rassenbiologischen Ideen
anknüpfenden Sinn (269, 30 f.), gibt aber am Ende seines Monologs mit Blick
auf die Kirche zu bedenken, dass „wir" „das Gift" liebten (270, 18). Zudem sei
die Kirche, die doch eigentlich der Schrittmacher dieser Verpöbelung gewesen
sei, mittlerweile eine Art altertümlicher, die Entwicklung eher aufhaltender
Fremdkörper, die nicht mehr zu verführen verstünde. Nach diesem „Epilog ei-
nes ,Freigeistes'" zur „Rede" (270, 19) des sprechenden „Ich" ergreift dieses
selbst wieder das Wort, jedoch nur, um zu sagen, dass der „Freigeist" ihm „bis
dahin zugehört" und es nicht ausgehalten habe, es „schweigen zu hören. Für
mich nämlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen." (270, 21-23) Aber
genau dies tut das „Ich" nicht; es redet, indem es über das Schweigen redet -
und lässt andere, einen imaginierten „Freigeist" - den Marc Sautet in Nietz-
sche 1990, 253 f. mit Jean-Marie Guyau als Verfasser von L'irreligion de l'avenir
glaubt identifizieren zu können - an seiner Statt reden.
270, 2 f. Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was
liegt an Worten!)] „Verjüdelt" ist ein Begriff aus dem antisemitischen Vokabular
der Zeit (vgl. z. B. Bauer 1863, 8, 25 u. 49; Dühring 1881, 9, 82 u. 85 f.; ausführ-
lich dazu Gemes 2019), den N. an den beiden Stellen, wo er ihn in einem Werk
braucht - neben GM I 9 noch FW 135, KSA 3, 486, 13 - umprägt, indem er es
dazu benutzt, das Christentum zu diskreditieren, vgl. Schank 2000, 76. Freilich
funktioniert diese Umprägung nur, weil der Ausdruck auch im antichristlichen
Kontext von der zeitgenössischen, negativen Konnotation zehrt.
270, 9 Quaeritur.] Lateinisch: „Es wird gefragt"; „die Frage stellt sich."