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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0179
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160 Zur Genealogie der Moral

anstrengung des Tages der Gedanke an das Jenseits entweder völlig verschwin-
det oder eine poetische Gestalt annimmt statt der dogmatischen." (Burckhardt
1869b, 396 f. In den beiden Exemplaren des Werks, die sich in N.s Bibliothek
erhalten haben, finden sich an dieser Stelle keine Lesespuren) Die „plastische,
nachbildende, ausheilende, auch vergessen machende Kraft" von GM I 10
schließt an die in UB II HL erfolgte Generalisierung der Wendung an, die bei
Burckhardt auf herausragende Renaissance-Individuen gemünzt ist: Plastische
Kraft, die Vergessen-Können und Vergessen-Machen einschließt, ist nun ein
Charakteristikum vornehmer Naturen überhaupt. Im popularisierenden Rück-
griff auf Nietzsche wird die „plastische Kraft" bei Driesmans 1898 dann zum
titelgebenden Inbegriff dessen, was die Menschheit brauche und was ihr an-
geblich aktuell abgehe.
273, 21-24 (ein gutes Beispiel dafür aus der modernen Welt ist Mirabeau, wel-
cher kein Gedächtniss für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm
begieng, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er — vergass)] N.s
Interesse an Honore Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau (1749-
1791), dem berühmten Publizisten, Politiker und Wegbereiter der Französi-
schen Revolution ist von den frühen 1880er Jahren an dokumentiert; seine
rücksichtslos-zupackende Art als Polemiker stand N. etwa dank Sainte-Beuve
deutlich vor Augen (Sainte-Beuve 1880, 263-265 = Sainte-Beuve 2015, 322-324).
Dieses Interesse nährte sich etwa aus Mirabeaus Briefen an Chamfort (Cham-
fort [1856], 309-365; vgl. FW 95, KSA 3, 450, 7-14). Aus Henri Jolys Psychologie
des grands hommes stammen die Charakterisierungen, die die Aufzeichnung
NL 1887, KGW IX 6, W II 1, 91, 28-30 u. 32-34 von Mirabeau gibt (Joly 1883,
64 u. 62, vgl. Campioni 2009, 42), welche die brachiale Unerbittlichkeit dieses
Charakters hervorheben (NL 1884, KSA 11, 26[447], 269, 13 f. stammt aus Dou-
dan 1878, 2, 417). In NL 1885/86, KGW IX 5, W I 8, 62, 14-16 notierte N. „Der
Gewissensbiß wie alle ressentiments bei einer großen Fülle von Kraft fehlend.
(Mirabeau, B. Cellini, Cardanus)". Letztere fehlen in GM I 10, stattdessen wird
Mirabeau als Mann, dessen Stärke wesentlich in der Fähigkeit zum Vergessen
beruht - ein N.-Lesern aus UB II HL sattsam bekanntes Motiv - auf sich allein
gestellt, und die beiden anderen historischen Personen fallen quasi selbst dem
Vergessen anheim.
273, 26-33 hier allein ist auch das möglich, gesetzt, dass es überhaupt auf Er-
den möglich ist — die eigentliche „L iebe zu seinen Feinden". Wie viel Ehrfurcht
vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! — und eine solche Ehrfurcht
ist schon eine Brücke zur Liebe... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine
Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem
Nichts zu verachten und sehr Viel zu ehren ist!] Über das Verhältnis der vor-
 
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