Stellenkommentar GM I 10, KSA 5, S. 273 161
nehmen Griechen zu ihren Feinden hat sich N. in Schmidts Ethik der alten
Griechen aufklären lassen können. „In umfassendster Weise hat Plutarch den
Gegenstand in der erhaltenen Schrift über den Nutzen der Feinde behandelt,
in welcher er zugleich hervorhebt, wie derartige Verhältnisse die Charakterbil-
dung auch dadurch fordern, dass sie an würdevolle Ruhe und Edelsinn gewöh-
nen und zu einem gesunden Wetteifer anspornen." (Schmidt 1882b, 2, 358) So
wichtig die Feindschaft im Sozial- und Seelenleben der Griechen auch gewesen
sein mag: Schmidt gibt doch „ein ferneres Motiv" zu bedenken, „welches von
einem allzu schrankenlosen Verfolgen der Feindschaft zurückzuhalten geeig-
net war": „die Selbstachtung" (ebd., 365). Es wird an einen „Spruch[.] alter
Volksweisheit" erinnert, welchen Pindar auf den mythischen Meergreis Nereus
zurückführt", man solle nämlich „auch den Feind, wenn es mit Recht ge-
schieht und er Gutes thut, von ganzem Herzen loben" (ebd., 365, vgl. ebd.,
410). So sehr Schmidt dann eine allmähliche Erosion der schroffen Freund-
Feind-Unterscheidungen keimen sieht, etwa dort, wo empfohlen wird, die
Feinde zu Freunden zu machen, nimmt bei ihm die griechische Reflexion über
die Feindschaft ihre Bestimmung nicht, wie GM I 10 andeutet, in einer Feindes-
liebe, die impliziert, man müsse seine Feinde lieben, weil man sie achte. Das
lange Kapitel über Freundschaft und Feindschaft endet bei Schmidt vielmehr
mit den Stoikern: „Eine wirkliche Fremdheit zwischen dem Menschen und dem
Menschen war nach den Anschauungen dieser Männer unmöglich: dadurch
hoben sie die eigentliche Grundlage des antiken Feindschaftsbegriffes auf."
(Ebd., 368) Dass GM I 10 die Feindesliebe, die mit der christlichen Sklavenmo-
ral assoziiert ist (Matthäus 5, 44 u. Lukas 6, 27) und bei N. wiederholt zu Kritik
Anlass gibt (vgl. NK 282, lf.; NK KSA 5, 104, 2 u. NK KSA 5, 152, 18-20), nun
ausgerechnet für die vornehme Moral in Anspruch nimmt, ist eine sehr poin-
tierte Aneignung eines antagonistischen moralischen Lehrstücks: Die Vorneh-
men wollen dabei gerade nicht wie die Stoiker die Aufhebung aller Feind-
schaft, sondern sie affirmieren diese Feindschaft, weil sie sich und die Feinde
lieben und an ihnen wachsen, eben statt mit dem Genitivus subjectivus mit
dem Genitivus objectivus „Liebe zu seinen Feinden" (273, 28, vgl. Menke
2000, 222 zu der in dieser Gedankenfigur angelegten „Abschüttelung der
Norm der Gleichheit" sowie Joisten 1994, 159 f., Endnote 27, die im Blick auf
diese Stelle N. gegen Schelers pauschalen Vorwurf in Schutz nimmt, er habe
keinen konsistenten Liebesbegriff). Diese Appropriation soll dokumentieren,
dass die Ressentiment-Moral doch zu keiner eigenständigen, nicht-reaktiven
Wertschaffung imstande ist. Nur bedauerlich, dass GM I 10 keinerlei Beleg da-
für beibringt, dass diese Form der Feindesliebe tatsächlich ein genuin vorneh-
mes Konzept gewesen ist. Aus Schmidts Ethik der alten Griechen lässt sie sich
jedenfalls nicht ableiten. Weihevoll überhöht wird sie in Za I Vom Krieg und
nehmen Griechen zu ihren Feinden hat sich N. in Schmidts Ethik der alten
Griechen aufklären lassen können. „In umfassendster Weise hat Plutarch den
Gegenstand in der erhaltenen Schrift über den Nutzen der Feinde behandelt,
in welcher er zugleich hervorhebt, wie derartige Verhältnisse die Charakterbil-
dung auch dadurch fordern, dass sie an würdevolle Ruhe und Edelsinn gewöh-
nen und zu einem gesunden Wetteifer anspornen." (Schmidt 1882b, 2, 358) So
wichtig die Feindschaft im Sozial- und Seelenleben der Griechen auch gewesen
sein mag: Schmidt gibt doch „ein ferneres Motiv" zu bedenken, „welches von
einem allzu schrankenlosen Verfolgen der Feindschaft zurückzuhalten geeig-
net war": „die Selbstachtung" (ebd., 365). Es wird an einen „Spruch[.] alter
Volksweisheit" erinnert, welchen Pindar auf den mythischen Meergreis Nereus
zurückführt", man solle nämlich „auch den Feind, wenn es mit Recht ge-
schieht und er Gutes thut, von ganzem Herzen loben" (ebd., 365, vgl. ebd.,
410). So sehr Schmidt dann eine allmähliche Erosion der schroffen Freund-
Feind-Unterscheidungen keimen sieht, etwa dort, wo empfohlen wird, die
Feinde zu Freunden zu machen, nimmt bei ihm die griechische Reflexion über
die Feindschaft ihre Bestimmung nicht, wie GM I 10 andeutet, in einer Feindes-
liebe, die impliziert, man müsse seine Feinde lieben, weil man sie achte. Das
lange Kapitel über Freundschaft und Feindschaft endet bei Schmidt vielmehr
mit den Stoikern: „Eine wirkliche Fremdheit zwischen dem Menschen und dem
Menschen war nach den Anschauungen dieser Männer unmöglich: dadurch
hoben sie die eigentliche Grundlage des antiken Feindschaftsbegriffes auf."
(Ebd., 368) Dass GM I 10 die Feindesliebe, die mit der christlichen Sklavenmo-
ral assoziiert ist (Matthäus 5, 44 u. Lukas 6, 27) und bei N. wiederholt zu Kritik
Anlass gibt (vgl. NK 282, lf.; NK KSA 5, 104, 2 u. NK KSA 5, 152, 18-20), nun
ausgerechnet für die vornehme Moral in Anspruch nimmt, ist eine sehr poin-
tierte Aneignung eines antagonistischen moralischen Lehrstücks: Die Vorneh-
men wollen dabei gerade nicht wie die Stoiker die Aufhebung aller Feind-
schaft, sondern sie affirmieren diese Feindschaft, weil sie sich und die Feinde
lieben und an ihnen wachsen, eben statt mit dem Genitivus subjectivus mit
dem Genitivus objectivus „Liebe zu seinen Feinden" (273, 28, vgl. Menke
2000, 222 zu der in dieser Gedankenfigur angelegten „Abschüttelung der
Norm der Gleichheit" sowie Joisten 1994, 159 f., Endnote 27, die im Blick auf
diese Stelle N. gegen Schelers pauschalen Vorwurf in Schutz nimmt, er habe
keinen konsistenten Liebesbegriff). Diese Appropriation soll dokumentieren,
dass die Ressentiment-Moral doch zu keiner eigenständigen, nicht-reaktiven
Wertschaffung imstande ist. Nur bedauerlich, dass GM I 10 keinerlei Beleg da-
für beibringt, dass diese Form der Feindesliebe tatsächlich ein genuin vorneh-
mes Konzept gewesen ist. Aus Schmidts Ethik der alten Griechen lässt sie sich
jedenfalls nicht ableiten. Weihevoll überhöht wird sie in Za I Vom Krieg und