Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0214
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GM I 14, KSA 5, S. 280 195

von GM I über die sklavenmoralischen Umwertungsstrategien postuliert ha-
ben - „Ideale" sind wie oft in N.s Spätwerk negativ besetzt und für Leitvorstel-
lungen, die „Götzen" (vgl. NK KSA 6, 258, 10-16) der verachteten Moralformen
reserviert. Aber durch Einbeziehung eines Lesers als Beobachter scheint das
vom „Ich" bislang nur Behauptete wie durch einen unabhängigen Zeugen be-
stätigt zu werden, der ausdrücklich schon in seiner ersten Äußerung kundtut:
„,Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden, es ist kein Zwei-
fel — es steht damit so, wie Sie es sagten."' (281, 19-21). Der Übergang zu den
christlichen Endzeitvorstellungen in der zweiten Hälfte von GM I 14 markiert
hingegen eine deutliche Akzentverschiebung.
Zu Beginn von GM I 14 hält das sprechende „Ich" nach jemandem Aus-
schau, der „den Muth dazu" (281, 9) habe, sich die Idealfabrikation näher an-
zuschauen - und spielt mit diesem verlangten Mut zum Abgründigen auf das
Eingangsmotiv von Schillers berühmter Ballade Der Taucher (1797) an: „Wer
wagt es, Rittersmann oder Knapp, / Zu tauchen in diesen Schlund?" (Schiller
1844, 1, 287) Offenbar ist gleich ein Freiwilliger zur Hand, der in seiner übereif-
rigen Willfährigkeit mit der Aufforderung gebremst werden muss, noch zu war-
ten, bis er sich an „dieses falsche schillernde Licht" (281, 11 f.) gewöhnt habe.
Es ist also in der unterirdischen Idealfabrikationsanstalt nicht einfach dunkel,
sondern eine Art von Kunstlicht sorgt für schwierige Sichtverhältnisse (vgl.
Heblik 2006). Das sprechende „Ich" zieht sich nun zurück und überlässt dem
Neugierigen das Wort, der einfach nur hinzuschauen braucht, als ob das „Ich"
kurzerhand einen Vorhang weggezogen hätte (vgl. NK KSA 6, 172, 2-6). Zu-
nächst aber, in seiner ersten Äußerung, sieht er nichts - eigentlich sieht er
seinen ganzen Bericht über nichts! -, sondern hört nur, nämlich ein „Munkeln
und Zusammenflüstern" (281, 17), das die Schwäche zum Verdienst umlüge.
Die zweite Äußerung, nach einem fordernden „Weiter!" (281, 22) seines Gegen-
übers, setzt mit der zur ,„Güte‘" umgelogenen „Ohnmacht", der zur „,Demuth'"
umgelogenen „Niedrigkeit", der zum „,Gehorsam'" umgelogenen „Unterwer-
fung" (281, 23-25) fort, streift „Feigheit" und „,Geduld'", „Sich-nicht-rächen-
Können" als „Verzeihung" (281, 27-32) und schließlich die „,Liebe zu seinen
Feinden'" (282, 2). Nach einem zweiten „Weiter!" (282, 3) wird von diesen nicht
näher beschriebenen „Munkler[n] und Winkel-Falschmünzer[n]" (282, 4 f.) in
der dritten Äußerung des wagemutigen Beobachters berichtet, dass sie tatsäch-
lich „elend" seien, aber ihr „Elend" zu einer „Vorbereitung" (282, 8) umdeute-
ten, nämlich einer künftigen Belohnung namens „,die Seligkeit'" (282, 11). Der
Akzent verschiebt sich also von den christlichen Tugenden zur christlichen Es-
chatologie, was nach einem abermaligen „Weiter!" (282, 12) die vierte Äuße-
rung unterstreicht, die darauf abhebt, dass diese Elenden nicht nur glaubten,
sie seien „besser", „sondern es auch ,besser hätten', jedenfalls einmal besser
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften