194 Zur Genealogie der Moral
ven sich der Selbstverneinung praktisch zuwenden, hätten die Herren bald nie-
manden mehr, an dem sie sich vergehen könnten.
Zur heiligen Lüge vgl. z. B. NK KSA 6, 102, 13-16 und NK KSA 6, 208, 10.
280, 34-281, 5 Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die Seele) ist
vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der
Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene
sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So-
und So-sein als Verdienst auszulegen.] In AC 43 wird der christliche Anspruch
auf eine sogar noch unsterbliche Seele als bodenlose Unverschämtheit bloßge-
stellt, die diesen kleinen Leuten ganz und gar nicht zustehe, vgl. NK KSA 6,
217, 17-24. Das Argument von 280, 34-281, 5 provoziert Fragen: Warum sollten
die Vornehmen auf starke, unverwechselbare Individualität, auf ihr Subjekt-
Sein Anspruch erheben dürfen?
Ein Hauptproblem von GM I 13 bleibt auch im Schlusssatz bestehen: Einer-
seits wird beharrlich behauptet, die Natur der Starken, gewaltsam zu sein, las-
se sich nicht verändern, weil sich eben darin ihre Stärke manifestiert, die sich
wiederum nicht selbst verleugnen kann. Andererseits gründet die ganze De-
nunziation der sklavenmoralischen Umwertung ja darauf, dass sie offensicht-
lich Erfolg gehabt haben muss, dass also die Starken tatsächlich an ihrer Stär-
ke irregeworden sind: Moral kann anscheinend doch Raubvögel zu Lämmern
machen oder ihnen jedenfalls die Flügel und die Krallen stutzen. Dann aber
bleibt Stärke nicht zwangsläufig Stärke und Schwäche nicht zwangsläufig
Schwäche. Stärke und Schwäche hören auf, den Anschein zu erwecken, abso-
lute Begriffe zu sein, und erweisen sich als das, was sie sind: relational.
14.
GM I 14 zettelt einen Dialog mit einem fiktiven Leser an, der dazu angehalten
wird, in die „dunkle Werkstätte" (281, 10) hinabzusteigen, in der „auf Erden
Ideale fabrizirt" werden (281, 8). Diese Fabrikation geschieht nicht ober-,
sondern unterirdisch. Der angesprochene Leser gehorcht dem sprechenden
„Ich" und gibt in direkter Rede und sechs Einzelaussagen Auskunft über seine
Beobachtungen in der sklavenmoralischen Ideale-Fabrik, die durch diverse
biblische und bibelanaloge Anspielungen, entsprechende religiöse Tugenden
und Vorstellungen als christlich ausgewiesen ist, ohne ausdrücklich so ge-
nannt zu werden. Der beobachtende „Herr Vorwitz und Wagehals" (281, 11, vgl.
Mulhall 2009) wird immer wieder vom Autor-Ich unterbrochen, das ihn zum
Weitererzählen auffordert. In der Sache geht das vom Beobachter Berichtete
zunächst kaum über das hinaus, was bereits die vorangegangenen Abschnitte
ven sich der Selbstverneinung praktisch zuwenden, hätten die Herren bald nie-
manden mehr, an dem sie sich vergehen könnten.
Zur heiligen Lüge vgl. z. B. NK KSA 6, 102, 13-16 und NK KSA 6, 208, 10.
280, 34-281, 5 Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die Seele) ist
vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der
Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene
sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So-
und So-sein als Verdienst auszulegen.] In AC 43 wird der christliche Anspruch
auf eine sogar noch unsterbliche Seele als bodenlose Unverschämtheit bloßge-
stellt, die diesen kleinen Leuten ganz und gar nicht zustehe, vgl. NK KSA 6,
217, 17-24. Das Argument von 280, 34-281, 5 provoziert Fragen: Warum sollten
die Vornehmen auf starke, unverwechselbare Individualität, auf ihr Subjekt-
Sein Anspruch erheben dürfen?
Ein Hauptproblem von GM I 13 bleibt auch im Schlusssatz bestehen: Einer-
seits wird beharrlich behauptet, die Natur der Starken, gewaltsam zu sein, las-
se sich nicht verändern, weil sich eben darin ihre Stärke manifestiert, die sich
wiederum nicht selbst verleugnen kann. Andererseits gründet die ganze De-
nunziation der sklavenmoralischen Umwertung ja darauf, dass sie offensicht-
lich Erfolg gehabt haben muss, dass also die Starken tatsächlich an ihrer Stär-
ke irregeworden sind: Moral kann anscheinend doch Raubvögel zu Lämmern
machen oder ihnen jedenfalls die Flügel und die Krallen stutzen. Dann aber
bleibt Stärke nicht zwangsläufig Stärke und Schwäche nicht zwangsläufig
Schwäche. Stärke und Schwäche hören auf, den Anschein zu erwecken, abso-
lute Begriffe zu sein, und erweisen sich als das, was sie sind: relational.
14.
GM I 14 zettelt einen Dialog mit einem fiktiven Leser an, der dazu angehalten
wird, in die „dunkle Werkstätte" (281, 10) hinabzusteigen, in der „auf Erden
Ideale fabrizirt" werden (281, 8). Diese Fabrikation geschieht nicht ober-,
sondern unterirdisch. Der angesprochene Leser gehorcht dem sprechenden
„Ich" und gibt in direkter Rede und sechs Einzelaussagen Auskunft über seine
Beobachtungen in der sklavenmoralischen Ideale-Fabrik, die durch diverse
biblische und bibelanaloge Anspielungen, entsprechende religiöse Tugenden
und Vorstellungen als christlich ausgewiesen ist, ohne ausdrücklich so ge-
nannt zu werden. Der beobachtende „Herr Vorwitz und Wagehals" (281, 11, vgl.
Mulhall 2009) wird immer wieder vom Autor-Ich unterbrochen, das ihn zum
Weitererzählen auffordert. In der Sache geht das vom Beobachter Berichtete
zunächst kaum über das hinaus, was bereits die vorangegangenen Abschnitte