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Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 280 193

so habe er die Staatsmünze, ohne ein Ziel zu kennen, verfälscht, und da man
ihn ergriffen, sey er, wie einige sagen, verbannt" worden (Diogenes Laertius
1807, 1, 346). Diese in N.s Bibliothek erhaltene Übersetzung von Christian Au-
gust Borheck verfehlt freilich die eigentliche Pointe, nämlich die Zweideutig-
keit des griechischen Wortes vopiapa, das einerseits „Münze" bedeutet, ande-
rerseits aber auch „die geltende Ordnung": Wenn es von Diogenes von Sinope
bei Diogenes Laertius: De vitis VI 20 heißt: „wg napaxapa^ai TO vopiopa", kann
das Zweierlei bedeuten: „dass er das Geltende umgeprägt habe" oder „dass
er die Münze ver-/gefälscht habe". N., der durch seine intensive philologisch-
historische Diogenes-Laertius-Beschäftigung mit dem griechischen Wortlaut
gut vertraut war, wird diese Pointe nicht entgangen sein, die in der Überset-
zung von Otto Apelt klarer zum Ausdruck kommt: „Einige behaupten, er sei
zum Aufseher gemacht worden und habe sich von den Werkleuten bereden
lassen, nach Delphi oder nach Delos, der Heimat des Apollon, zum delischen
Tempel sich zu begeben, um dort anzufragen, ob er das vornehmen dürfe,
wozu man ihn auffordere (nämlich eine Änderung des Nomisma). Als der Gott
es erlaubte, nämlich eine Änderung der staatlichen Ordnung (hoAltlkov vopto-
pa) überhaupt (nicht aber der Münze, voptopa), fasste er es anders auf, fälschte
die Münze, ward gefasst und musste, wie einige vermeiden, in die Verbannung
gehen" (Diogenes Laertius 1921, 1, 267). Die Falschmünzerei und die Umwer-
tung der Werte sind also zwei Seiten derselben Münze. Es fällt auf, dass beson-
ders in N.s Spätwerk die Metapher der Falschmünzerei exzessiv zur Kennzeich-
nung des Aus- und Abgegrenzten benutzt wird, während die Autorfigur ihr
eigenes Tun als „Umwerthung aller Werthe" charakterisiert. Vgl. NK 369, 14-
17 u. NK KSA 6, 95, 31.
280, 31-34 Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie
„Subjekt" nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung he-
raus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt.] Vgl. NK 280, 4-11. Als metaphysi-
sche Chimäre tut JGB 21, KSA 5, 35 f. die Willensfreiheit ab und will stattdessen
nur starken und schwachen Willen unterschieden haben, siehe NK 5/1, S. 196-
205. Strong 2006, 99 argumentiert, das „Lamm" verlange vom „Raubvogel",
dass dieser erstens einen Grund für sein Tun angebe, dass er zweitens eine
Wahl in seinem Tun habe, dass es drittens einen unabhängigen, gemeinsamen
Rahmen für die Urteile sowohl des Raubvogels als auch des Lammes geben
müsse, und viertens, dass der Raubvogel reflektiert sein müsse. „The lamb
wants the eagle to be rational." Besonders bemerkenswert ist an 280, 31-34
aber, dass den von Sklavenmoral Bestimmten nicht nur „Instinkte der Selbster-
haltung", sondern auch solche der „Selbstbejahung" zugebilligt werden. Wer
wollte ihnen dieses Recht zur Selbstbejahung verwehren - und was wäre, aus
herrenmoralischer Perspektive, dazu denn die Alternative? Würden die Skla-
 
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