Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0253
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
234 Zur Genealogie der Moral

„Verantwortlichkeit" besteht darin, in der Gegenwart für seine eigene Zukunft
bürgen zu können, selber zu gestalten, was man sein wird. Das „Wissen" da-
rum sei diesen Individuen zum „dominirenden Instinkt" geworden und heiße
„Gewissen" (294, 23-26).
GM II 2 gehört zu den meistdiskutierten Passagen der gesamten „Streit-
schrift". Das liegt zum einen daran, dass dieser Abschnitt mit einer ganzen
Reihe von Reizwörtern aufwartet - Souveränität, freier Wille, Verantwortlich-
keit, Gewissen -, die namentlich englischsprachige Interpreten mit mangelhaf-
ten Deutschkenntnissen zu oberflächlichen Lektüren und reflexhaften Deutun-
gen einladen. Zum anderen wirft der Abschnitt aber tatsächlich eine Reihe sys-
tematischer Probleme auf, die sich schwerlich zufriedenstellend lösen lassen.
Die bereits erwähnte erste Irritation rührt daher, dass im Unterschied zur bis-
her in GM präsentierten, zu immer breiterer Vermassung und Vermittelmäßi-
gung führenden Geschichte der Moralen jetzt offenbar ein vom „Wir" positiv
bewerteter Effekt auftritt, nämlich jenseits aller Disziplinierung eine Überwin-
dung moralischer Bindung. Diese Gedankenfigur weist strukturelle Ähnlichkeit
mit den Erwägungen gegen Ende von GM III auf, wo sich das asketische Ideal
durch sich selbst zu überwinden anschickt. Gemäß GM II 2 scheint die morali-
sche Konditionierung jedenfalls nicht nur Unterdrückung, sondern auch sou-
veräne Individuen hervorzubringen.
Die zweite Irritation rührt daher, dass das Versprechen-Dürfen jetzt als ein
überaus exklusives Privileg herausgestellt wird, während doch die Herausbil-
dung des Versprechen-Dürfens in GM II 1 als eine soziale Notwendigkeit er-
schienen war, um die zwischenmenschlichen, genauer: die obligationenrecht-
lichen Beziehungen langfristig zu organisieren. GM II wird diesen Aspekt noch
weiter vertiefen. Die Pointe von GM II 1 besteht darin, dass es zwingend
scheint, alle Menschen als Wesen zu konditionieren, die versprechen dürfen,
denn sie alle sollen ja in der Lage sein, Verbindlichkeiten für ihre eigene Zu-
kunft einzugehen, das heißt, heute Schulden zu machen, die sie künftig zu-
rückzahlen werden. Demnach müssten eigentlich sämtliche entsprechend sozi-
alisierten Gattungsangehörigen souveräne Individuen sein - und nicht nur ein
paar wenige. Das souveräne Individuum von GM II 2 scheint wenig Ähnlichkei-
ten mit den starken Individuen zu haben, über die bei N. sonst die Rede ist,
auch wenn etwa May 1999, 41, Fn. 30 es mit den Vornehmen von GM I 10
kurzschließt (vgl. auch Hesse 1993, 903). Es darf versprechen, weil höchste
Wahrscheinlichkeit besteht, dass es die Versprechen einhalten kann - es ist,
um es paradox zu formulieren, zu seiner Souveränität konditioniert. Warum
sollte es indessen ein besonderes Kennzeichen souveräner Individuen sein,
versprechen zu dürfen? Sind die Beispiele, die N. andernorts für souverän agie-
rende Individuen beibringt, etwa Cesare Borgia (vgl. NK KSA 5, 117, 17-29),
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften